Anubis - Roman
fällt, diesen Begriff zu benutzen«, sagte Graves unwillig. »Ich habe solche Orte gesehen, Mogens. Heilige Plätze, an welche die Menschen seit dem Tag kommen, als sie angefangen haben, ihren Göttern zu huldigen. Man findet sie überall auf der Welt. Man muss nur genau hinsehen – oder tief genug graben. Eine mittelalterliche Kirche über einem römischen Tempel, und darunter ein keltischer Steinkreis. Noch tiefer vielleicht ein vorzeitlicher Ritualplatz, und wenn man noch tiefer gräbt …« Er hob die Schultern. »Es gibt Orte, denen etwas Besonderes anhaftet, und die Menschen spüren es. Seit Urzeiten kommen sie zu diesen Stellen, um ihre Tempel und Heiligtümer darauf zu errichten. Vielleicht spüren sie, dass etwas da ist, das sie anbeten müssen.«
Oder einsperren, dachte Mogens schaudernd. Vielleicht war es ja genau andersherum. Vielleicht errichteten die Menschen ihre heiligen Plätze ganz instinktiv immer am gleichen Ort, um ihn zu versiegeln .
»Wusstest du, dass genau hier über unseren Köpfen eine anglikanische Kirche errichtet werden sollte?«, fuhr Graves fort und beantwortete seine eigene Frage gleich mit einem Nicken. »Das war natürlich, bevor man herausgefunden hat, dass all das hier im Boden versinkt. Wir sind an einem solchen heiligen Ort, Mogens. Oder glaubst du wirklich, dass es Zufall ist: diese Höhle, der ägyptische Tempel und darunter dieses andere, ältere Heiligtum – und wer weiß, was wir hinter der Tür noch entdecken werden.«
»Was soll das?«, fragte Mogens misstrauisch. »Ist das jetzt nur ein weiterer Trick, um mich zu überreden? Die Mühe kannst du dir sparen.«
Graves drehte sich vollkommen unbeeindruckt um, machte ein paar Schritte und bedeutete Mogens mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. »Ich habe viele dieser Höhlenmalereien gesehen«, fuhr er fort. »Wahrscheinlich genug, um selbst den alten Talbot vor Neid erblassen zu lassen. Sie sind natürlich überall anders, ganz abhängig davon, welche Kultur sie erschaffen hat und auf welchem Kontinent man sie findet. Und doch gibt es Ähnlichkeiten. Manche Symbole wiederholen sich, ganz gleich aus welcher Epoche und welcher Zivilisation der Künstler stammt, der die Bilder erschuf. Sie sind nicht leicht zu erkennen, aber wenn man weiß, worauf man zu achten hat, dann findet man sie. Und ganz besonders auf ein Symbol bin ich immer wieder gestoßen, in allen Ländern, in die ich kam. In Tempeln, in alten Schriften und auf Wandmalereien. Aber nirgends war es so deutlich wie hier.« Er hob seine Laterne, sodass ihr Lichtschein auf einen ganz bestimmten Teil der Wand fiel.
Mogens tat wirklich sein Bestes, um der verwirrenden Anordnung von grob in den Stein gekratzten Strichen, Kreisen,Linien und Punkten irgendeinen Sinn abzugewinnen, aber sie blieb genau das: eine verwirrende Anordnung von grob in den Stein gekratzten Strichen, Kreisen, Linien und Punkten.
»Aha«, sagte er.
Graves warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, aber er beherrschte sich. »Wie gesagt: Man muss wissen, wonach man zu suchen hat. Das sind Sternbilder. Sternbilder und Planetenkonstellationen, um genau zu sein.«
»Sternbilder aus der Steinzeit?«, fragte Mogens zweifelnd.
»Aber, aber, Professor!«, seufzte Graves. »Muss ich ausgerechnet dir als Archäologen erklären, was für ausgezeichnete Astronomen unsere Vorfahren waren? Denke nur an die Mayas oder die alten Ägypter und das großartige Observatorium von Stonehenge!«
»Das hier dürfte um einiges älter sein«, sagte Mogens.
»Mindestens zehntausend Jahre«, bestätigte Graves. »Jedenfalls hat die bedauernswerte Miss Hyams es darauf geschätzt.« Er lächelte flüchtig. »Sagt dir der Name Dogon etwas?« Mogens verneinte. »Nun, das wundert mich nicht«, fuhr Graves in fast verächtlichem Ton fort. »Solcherlei Wissen wird an unseren Universitäten nicht gern weitergegeben, weil es nicht in das bequeme Weltbild dieser verknöcherten Professoren passt!«
Er machte ein verächtliches Geräusch, wandte sich dann aber wieder den angeblichen Planetenkonstellationen und Sternbildern zu. »Die Dogon sind ein Stamm, der in der afrikanischen Savanne lebt«, fuhr er fort. »Ein sehr alter Stamm. Sie haben keine schriftlich niedergelegte Geschichte, sodass es keine verlässlichen Zahlen gibt, aber ich persönlich bin davon überzeugt, dass ihre Kultur weit älter ist als selbst die der Pharaonen.«
Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion zu warten, und um nicht noch mehr Zeit zu verlieren,
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