Anubis - Roman
eine.
»Professor!«, sagte Miss Preussler noch einmal. Ihre Stimme klang ein wenig schrill. Dennoch setzte Mogens seine Untersuchung fort, bis er sich davon überzeugt hatte, dass es tatsächlich keine Lebenden mehr gab, was ihn mit einem sonderbar zwiespältigen Gefühl erfüllte: einer Mischung aus dumpfer Trauer und einem seltsam ziellosen Zorn, aber auch einer spürbaren Erleichterung, für die er sich heftig schämte, die aber dennoch da war.
»Professor!«, sagte Miss Preussler zum dritten Mal, und diesmal glaubte Mogens auch in ihrer Stimme einen leisen Unterton von Panik wahrzunehmen. Alarmiert sah er auf – und seine Augen weiteten sich ungläubig.
Das Mädchen saß noch immer auf den Knien und wiegte sich langsam vor und zurück. Seine Augen waren geschlossen, und es presste ein schmales, in Lumpen gehülltes Bündel an die Brust. Mogens glaubte zu hören, dass sie ein leises, rhythmisches Summen von sich gab.
Von einem unguten Gefühl erfüllt, stand er auf und trat auf sie zu, und aus diesem unguten Gefühl wurde blankes Entsetzen, als er sah, was sich in dem Bündel befand, das sie mit so verzweifelter Kraft an sich presste.
Es war ein Kind.
Und zugleich auch nicht.
Ganz zweifellos handelte es sich um einen Säugling von allerhöchstens drei oder vier Monaten, aber ebenso zweifellos war es auch kein menschliches Baby. Seine Haut war von einem dichten, hellbraunen Flaum bedeckt, der später zu einem borstigen Fell werden würde. Seine Hände, so winzig sie auch noch sein mochten, ähnelten schon jetzt deutlich eher Raubtierklauen als menschlichen Fingern, und wo sein Gesicht sein sollte, starrte Mogens der dreieckige Schädel eines Schakals an.
Es war ein Ghoul.
Sicher eine halbe Minute, wenn nicht länger, stand Mogens einfach da und starrte das grässliche Geschöpf an, das in den Armen des Mädchens lag. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, aber diesmal lag es nicht an einem neuen Erdstoß oder Beben. Alles drehte sich um ihn. Das Entsetzen, das er nun verspürte, war von einer gänzlich anderen, neuen Art, und es hatte seine Wurzeln weniger in dem, was er sah, als in dem, was es bedeutete – auch wenn dieser Gedanke einfach zu grotesk und zugleich zu grauenerregend war, als dass er ihm gestattete, ganz Gestalt anzunehmen.
Und er war noch nicht einmal das Schlimmste …
»Es ist tot, Professor«, sagte Miss Preussler mit leiser, tonloser Stimme. »Sehen Sie.« Sie trat – unendlich vorsichtig – auf das Mädchen zu und streckte die Hände nach dem blutigen Bündel in seinen Armen aus, kam ihm aber nicht einmal nahe genug, um es zu berühren. Das Mädchen prallte erschrocken zurück und presste den Säugling nur noch fester an sich. Hätte Mogens der bloße Anblick im allerersten Moment nicht einfach zu sehr schockiert, hätte er es sofort bemerkt:Das Ghoul-Kind war ebenso tot wie alle anderen hier, erschlagen von der heruntergestürzten Decke oder vielleicht auch unter Schutt und Staub erstickt. Die zerschlissenen Lumpen, in die es eingewickelt worden war, waren schwer und nass von Blut, und auch aus dem leicht geöffneten Maul, in dem schon jetzt eine doppelte Reihe winziger, aber nadelspitzer Zähne blitzte, war ein dünnes, braunrot verkrustetes Rinnsal gelaufen.
Die Erde zitterte, diesmal so leicht, dass Mogens die Erschütterung kaum spürte. Trotzdem rieselte Staub von der Decke, und nur einen Moment später hörten sie einen tiefen, grollenden Laut, der weniger aus dem Boden unter ihren Füßen zu kommen schien als vielmehr aus der Luft selbst.
»Wir müssen hier raus«, sagte Mogens nervös. »Bitte, Miss Preussler – Sie müssen sie irgendwie beruhigen. Bringen Sie sie dazu, dieses … Ding wegzulegen.«
Erwartungsgemäß warf ihm Miss Preussler einen strafenden Blick zu, und auch Mogens selbst bedauerte seine Worte fast – aber er brachte es einfach nicht fertig, von diesem grässlichen Geschöpf als »Kind« zu sprechen. Während er irgendwie versuchte, seine Aufmerksamkeit zwischen Miss Preussler und dem Mädchen mit seiner schrecklichen Last aufzuteilen und zugleich auf ein verdächtiges Knacken im Fels oder ein Zittern des Erdbodens unter seinen Füßen zu lauschen, jagten sich in seinem Hinterkopf die Gedanken. Was er sah, brachte ihn nahe an den Rand purer Hysterie. Zwar versuchte ihm sein Verstand zu erklären, dass es ein Dutzend anderer und logischerer Erklärungen für das gab, was er sah, aber etwas sagte ihm zugleich mit
Weitere Kostenlose Bücher