Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
ein verängstigtes Kind. »Bringen Sie mich nach Hause. Ich will zu Imee. Holen Sie Imee. Wo ist Imee? Ich will Imee.«
Angespannt und unangenehm berührt angesichts ihres Gefühlsausbruchs, führte er sie langsam zur Aufzugtür und drückte auf den Knopf inmitten der polierten Messingplatte. Während er wartete, bemerkte er, dass sein Hemd schon wieder schweißnass war.
Die ächzenden Drahtseile schienen eine halbe Ewigkeit zu brauchen, um die elegante, aber schwere Aufzugkabine aus dem Erdgeschoss nach oben zu schaffen. Und die ganze Zeit über bemühte Seth sich, Mrs. Roth zu beruhigen, obwohl er selbst völlig verunsichert war. Er erklärte ihr, dass sie gleich wieder in ihrem Bett liegen und Imee bei ihr sein würde. So lange, bis sie mit der Hand vor seinem Gesicht herumfuchtelte und verlangte, er solle damit aufhören: »Seien Sie doch endlich ruhig!«
Als er die äußeren Türen aufzog und sie in die Aufzugkabine führte, kniff sie die Augen zusammen und wirkte nun noch hinfälliger und gebeugter, als erinnerte sie sich an etwas, das sie besonders schmerzte. Etwas, das sie furchtbar quälte, sie zerbrach. Als würde das letzte Quäntchen Lebensenergie aus ihrem schwächlichen Körper entweichen.
Im neunten Stock stand die Tür zu ihrer Wohnung noch offen. Seth betätigte die Klingel, um Imee zu wecken, die sofort aus ihrem kleinen Zimmer am Ende des Flurs eilte. Mit einer Hand hielt sie sich den blauen Hausmantel schamhaft vor der Brust zu, als wollte sie ihre Blöße vor dem zudringlichen Blick des Nachtportiers schützen. Sie fasste Mrs. Roth unter und zog sie mit einem missgelaunten, wütenden Blick von ihm fort. Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu, während er sich noch bemühte, den Sachverhalt zu erklären. Mrs. Roth hatte in dem Moment, als sie Imee sah, angefangen zu weinen.
»Schlampe«, murmelte Seth vor sich hin und fuhr mit dem Aufzug in den Keller. Dort ging er in den Aufenthaltsraum der Angestellten und grübelte darüber nach, von wem Mrs. Roth vor der Tür von Apartment sechzehn wohl gesprochen hatte.
5
»Mama, sie hat nie irgendwas weggeworfen. Nichts. Ich erzähl keinen Unsinn. Du solltest mal die Sachen in ihrem Zimmer sehen. Da sind mindestens hundert Kleider und Kostüme und Mäntel und so was. Die stammen noch aus den Vierzigern, würde ich sagen. Und die sind alle noch da. Als wäre das ein Museum für vergangene Mode. Wir haben ein regelrechtes Museum geerbt. Die Lillian-Kollektion. Und manche von den Kleidern sind echt hübsch.« Apryl ging mit dem Handy am Ohr im Schlafzimmer ihrer Großtante auf und ab.
Allerdings war ihr schon klar, dass ihre Mutter sich nicht vorstellen konnte, was sie in den anderen Zimmern ihrer Großtante entdeckt hatte. Jedenfalls nicht, bevor sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Was ja nie der Fall sein würde, weil sie eine schon krankhafte Angst vorm Fliegen hatte. Apryl wiederum fühlte sich nicht in der Lage, ihre Entdeckungen angemessen zu beschreiben oder ihrer Mutter die Atmosphäre in dieser Wohnung zu schildern: die verblichene Pracht, die Allgegenwart eines großen Verlusts, die chaotische Art, wie die alte Frau gegen die Außenwelt angekämpft hatte, ihr verstörtes Innenleben, diese Heiligtümer und Spuren von eigenartigen Ritualen und Gewohnheiten, denen sie in den nicht bewohnten Räumen gefrönt hatte und die, aus der Gegenwart betrachtet, keinen Sinn mehr ergaben.
Zwei der Zimmer, die kleineren Räume, die auf der rechten Seite am Ende des zugestellten Flurs abgingen, waren vollgepackt mit Unrat und Überbleibseln. In jedem Zimmer gab es ein Einzelbett mit altmodischen Tagesdecken, die von einer Staubschicht überzogen waren. Neben den Betten standen überfüllte Kartons und alte Koffer mit allerlei Krempel. Was sie damit anfangen sollte, war ihr ein Rätsel. Wollte man alle Gegenstände auflisten, würde man Wochen, wenn nicht Monate brauchen.
Immerhin war der Platz zwischen den riesigen Kleiderschränken und den Kommoden in Lillians Schlafzimmer frei von Gerümpel. Außerdem standen dort ein mächtiges Bett und ein hübscher Sekretär mit drei verschlossenen Schubladen, deren Schlüssel sie nicht finden konnte. Sie ging davon aus, dass sich wichtige Papiere und Dokumente darin befanden. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Parfümfläschchen nebeneinander aufgereiht gesehen wie auf der Kommode. Die Kosmetikindustrie stellte solche hübschen Glasdinger nicht mehr her und schon gar nicht solche
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