Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
Müll werfen musste. Das Ehebett von Lillian und Reginald war nur noch als Feuerholz zu gebrauchen. Es taugte nichts mehr in einer Welt, die sie längst verlassen hatten.
Nach der Aufregung der letzten Nacht war Apryl noch immer völlig erschöpft und nicht in der Stimmung zu feilschen. Also akzeptierte sie die enttäuschend kleine Summe von fünftausend Pfund, die der Antiquitätenhändler für alles zusammen bot. Er lächelte dünn, als sie auf sein Angebot einging.
Da sie überzeugt war, dass auf dem Gemälde noch eine dritte Person abgebildet war, spürte Apryl den Drang, dieses Bild ebenfalls wegzugeben. Aber nach dem Frühstück und einigen Tassen starken Kaffees kam sie zu dem Schluss, ihre Einbildungskraft habe ihr einen Streich gespielt. Was war da schon zu sehen gewesen? Eine große, dünne, blasse Gestalt, die aufrecht dastand und durch einen trüben rötlichen Schimmer grinste. So etwas Ähnliches wie die flüchtige Erscheinung, die sie an dem Abend, als sie Lillians Kleider anprobierte, hinter ihrem eigenen Abbild im Spiegel bemerkt hatte. Die Ahnung einer schnellen Bewegung von dünnen Gliedmaßen, die sich über den Fußboden auf sie zubewegt hatten. Sie musste irgendetwas gelesen oder gesehen haben, das ihr diese Hirngespinste in den Kopf setzte, denn sie konnte sie mit nichts Bekanntem in Verbindung bringen.
Diese Wohnung setzte ihr einfach zu. Und Lillians Tagebücher trugen ihren Teil dazu bei. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, darin zu lesen. Nachdem sie die Angelegenheiten mit den Händlern erledigt und telefonisch ein Entrümpelungsunternehmen engagiert hatte, saß sie wieder am Küchentisch und schlug das vierte Tagebuch auf. Zuvor hatte sie einen Blick in den Stadtführer »London von A bis Z« geworfen. Das Buch mit dem schwarzen Umschlag hatte in der gleichen Schublade wie die Tagebücher gelegen, deshalb hatte sie es für einen weiteren Tagebuchband gehalten. In der Schublade befanden sich außerdem verschiedene Pläne vom Zentrum Londons, die mit zahlreichen Kugelschreibermarkierungen in verschiedenen Farben versehen waren.
An die Ränder waren eng geschriebene Anmerkungen gekritzelt worden. Es handelte sich eindeutig um Lillians Handschrift. Außerdem waren viele Schlangenlinien eingezeichnet, die von Knightsbridge aus in alle Himmelsrichtungen führten. Offensichtlich dokumentierten sie die misslungenen Fluchtversuche ihrer Tante. Alle Linien führten nicht weiter als eineinhalb Kilometer von ihrer Wohnung fort.
Das war also der Grund, warum fast alle Schuhe von Lillian so abgetragen waren. Ihre paranoiden Wanderungen durch die Stadt hatten über einen erstaunlich langen Zeitraum stattgefunden. Apryl fragte sich erneut, ob Lillians Liebe zu ihrem Ehemann womöglich so groß gewesen war, dass sie den Ort, an dem sie zusammengelebt hatten, nicht verlassen konnte. Als sie Stephen ihre Theorie darlegte, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie noch eine weitere Sperrmüllfuhre benötige, sah er sie unangenehm berührt an und entschuldigte sich, als wollte er erneut sein Beileid bekunden. Das exzentrische Gebaren ihrer Großtante schien ihn nervös zu machen.
Nun saß sie am Küchentisch, vor sich einen Becher mit frischem Kaffee, und las weiter in Lillians Tagebuch. Die Einträge im vierten Band waren kürzer und unzusammenhängender als in den ersten dreien, vor allem aber erschreckend verschieden im Stil:
Ich kann sie überall sehen. Ihre dünnen Silhouetten hängen in den Fenstern. Nicht vollständig geformt oder halb verdeckt von den Schatten. Manchmal lehnen sie nutzlos an den Wänden der Eingänge zu den Souterrain-Wohnungen oder hocken zusammengekauert und vor sich hinmurmelnd in den stillen, schmutzigen Ecken der Seitenstraßen oder auf verlassenen Plätzen hinter den Häusern. Sie versammeln sich in den Sackgassen. Sie existieren an jenen Orten, wo die Sonne niemals hinkommt. Ihre Gesichter sind das Schlimmste an der ganzen Sache. Ich sehe sie immer, wenn ich Richtung Mayfair schaue. Sie sind grauenhaft weiß und schmal und starren von den alten Fenstern auf die Straße hinab. Ihre Münder bewegen sich, aber ich kann nicht hören, was sie sagen. Wenn sie Lippen hätten, würde ich versuchen, davon abzulesen.
Am Shepherd Market, wo die Häuser bisher kaum renoviert wurden, drängen sie sich in den leeren Räumen hinter den verrammelten Eingängen. Und ich kann sie manchmal hören, wenn sie durch die Ritzen flüstern. Sie sprechen zu mir aus ihren Verstecken. »Kommt er bald
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