Aquila
Im Augenblick gab es keine Favoritin in seinem Leben. Egal. Er verschwendete keinen Gedanken daran.
Weil er der Meinung war, einen Leckerbissen verdient zu haben, hatte er sich eine Pizza mit Pepperoni, Champignons und Anchovis ins Haus bestellt, die nun zerfleddert auf dem Beistelltisch vor seinem bequemen, dick gepolsterten Sessel lag.
Die Schonbezüge auf den Armlehnen wurden fadenscheinig, doch es war sehr unwahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit ersetzt würden. In seiner voll gestopften Bibliothek, wo er die meiste Zeit verbrachte, stand ein Schwarzweißfernseher aus der Zeit der McCarthy-Ära, außerdem fanden sich da ein paar Farne, die seit fünf Jahren dahinsiechten, ein offener Kamin, aus Ziegelsteinen gebaut und mit schwärzlicher Asche, und eine imposante Nachbildung von Houdons Washington-Büste. Trotz allem war es ein ordentliches Zimmer – so ordentlich wie das ganze Haus, das er fünfzehn Jahre zuvor gekauft hatte.
Er reckte sich genüsslich und ging in die blitzsaubere Küche, wo er sich aus seiner Kaffeemaschine eine frische Tasse eingoss. Er verwendete nur selbst gemahlenen Kaffee. Dann setzte er sich wieder in die Bibliothek. Zwei leere Bierdosen, die er dort vorfand, warf er in den Papierkorb. Sein Leben gefiel ihm. Gut, er war Junggeselle – war vielleicht dazu geworden, ohne viel darüber nachzudenken.
Schluckweise trank er den dampfenden Kaffee und sah dabei dummerweise auf die Uhr. Mist! Zeit für die Spätnachrichten …
Um sechs hatte er dem Impuls widerstanden, Polly Bishops Sendung zu sehen. Nun wurde er schwach. Er stand seufzend auf und schaltete den Fernseher ein, dem die Worte
»Transistoren« und »Farbe« fremd waren und der eine Ewigkeit brauchte, um ans Laufen zu kommen.
Schemenhaft erschien der geföhnte Moderator, wurde klarer und lächelte salbungsvoll. »Nun unterhält sich Polly Bishop mit dem Harvard-Historiker, der vielleicht der Letzte war, der Bill 70
Davis lebend gesehen hat.« Nach einigen Minuten Werbung kam Polly Bishop ins Bild: kompetent und seriös, eine hervorragende Medienpräsenz (das musste er ihr zugestehen), die sich über den ehrwürdigen alten Harvard Yard und den bekannten Harvard-Professor ausließ …
Mein Gott, sah er verärgert aus und unsagbar arrogant und bieder! Es störte Chandler, sich als schnoddrigen Spießer zu erleben, der dieser schönen, seriösen Dame über den Mund fuhr, die nicht nur ihr Bestes gab, sondern auch im Vorspann des Senders als »Kämpferin gegen das Verbrechen« angekündigt worden war. Schließlich konnte er nicht länger hinsehen und fragte sich, ob Bill Davis’ Mörder wohl auch zusah und fand, dass dieser neunmalkluge Professor ebenfalls über die Klinge springen sollte. Er starrte aus dem Fenster auf die Veranda, von deren Geländer der Regen flüsternd auf die Büsche tropfte.
Als sie vom Bildschirm verschwunden war, wandte er sich an den Fernseher: »Gnädigste, Sie sind mit verantwortlich für den Fortbestand des Chauvinismus.« Er schaltete das Gerät aus, stopfte sich eine Pfeife, zündete sie an und ging auf die Veranda, um frische Luft zu schnappen.
Auf der anderen Straßenseite gingen zwei Männer im Regen spazieren. Sie hielten die Köpfe gesenkt und die Hände in den Taschen ihrer Regenmäntel vergraben. Der kleinere trug einen Pepitahut, der zu seinem Regenmantel passte. Chandler betrachtete sie durch den Regen und lächelte. Das gibt’s doch nicht! Zweimal das gleiche Outfit! Er schüttelte den Kopf.
Vielleicht waren es neue Nachbarn.
Er ging zurück ins Haus und schloss ab. Dann warf er ein paar Holzscheite ins Feuer und konzentrierte sich auf seine Lektüre.
71
DONNERSTAG
Am nächsten Morgen wachte er auf mit dem Gedanken an Bill, Davis und Polly Bishop und die Polizei. Sie hatte Recht gehabt: Er wusste etwas, was er ihr nicht gesagt hatte. Verifizierung…
Polly Bishop würde er hundertprozentig nicht anrufen, aber er musste es jemandem sagen. Den beiden Polizisten, die ihn vor zwei Tagen aufgesucht hatten. Den Beamten aus Brookline.
Brennan kam zur Kaffeezeit kurz nach zehn in Chandlers Büro vorbei. Die Kaffeemaschine auf dem Bücherregal schnaufte.
Chandler lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und starrte aus dem Fenster in den Sonnenschein. Es hatte etwa Frühlingshaftes in der Luft gelegen, als er in sein Büro gegangen war. Es versprach ein schöner Tag zu werden.
»Hast du den Aufguss von gestern benutzt?« Brennan verzog das
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