Aquila
fassen.« Er gähnte.
»Armer Kerl! Sie brauchen wirklich Schlaf.« Sie erhob sich und trat ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zurück und spähte hinaus in den Regen. Ezzard sprang durch den Spalt aufs Fensterbrett. Die Uhr tickte. Chandler streckte sich in voller Länge auf dem Sofa aus und kuschelte sich in die Kissen. Er hatte gerade die Augen geschlossen, als sie anfing zu reden. Er blinzelte mit einem Auge. Sie stand über ihm. Der Donner grollte.
»Professor, Sie müssen sich über eins im Klaren sein: Sie stehen auf der schwarzen Liste. Ich will nicht melodramatisch werden; aber ich habe mehr Erfahrung mit der Wirklichkeit als Sie.«
Er schloss das Auge.
»Sie müssen aus der Schusslinie. Bleiben Sie Ihrem Haus und Harvard fern.«
»Aber ich muss mich morgen mit Nora treffen.«
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»In Ordnung.«
»Und ich habe nichts anzuziehen.«
»Darum kümmern wir uns morgen früh. Was mir Sorgen
macht, sind diese vier Kerle. Nennen wir sie einfach die Wanzen und die Schläger … Ich kann mich bei der Mordkommission nach Fennerty und McGonigle erkundigen. Ich rufe Tony Lascalle an. Und wegen der beiden andern bei der
Staatsanwaltschaft. Aber ganz offensichtlich sind sie keine Sonderermittler. Bill und Underhill wurden umgebracht, und Pepitahut und Zange stehen ziemlich weit oben auf der Verdächtigenliste. Aufwachen, Professor!«
»Ich bin wach. Und bitte nennen Sie mich Colin. Ich lasse meine Augen nur ein bisschen ausruhen.«
»Sie sinken gleich ins Nirwana.«
»Ich bin eben nicht mehr der Jüngste.«
»Dann schlafen Sie. Wir besprechen die Einzelheiten morgen früh.«
»Danke fürs Quartier, Miss Bishop.«
»Polly.«
Als sie gegangen war, hörte Chandler dem Regen und dem Knistern der Holzscheite zu. Er spürte den sanften Luftzug vom Fenster her und versuchte, sich auf die Pfandfindertugenden zu besinnen. Obwohl er selbst Mitglied gewesen war, konnte er sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern …
Zunächst dachte der alte Herr, ihn habe ein Donnerschlag geweckt. Er erwachte mit einem schmerzhaften Stechen auf der linken Brustseite und überging es mit ärgerlich gerunzelter Stirn.
Als er die Nachttischlampe anknipste, hörte er den Donner krachen und den Regen auf das Schieferdach trommeln. Aber es war nicht das Gewitter, das ihn aus seinem üblichen leichten, unruhigen Schlaf gerissen hatte, sondern das Telefon. Er hasste es, mitten in der Nacht geweckt zu werden. Drei bis vier Stunden nächtlicher Ruhe waren alles, was ihm sein schwaches 112
Herz gewährte, und sie waren ihm lieb und teuer. In seinem Job wurde er jedoch relativ oft nachts angerufen. Eine Menge Leute arbeitete für ihn, und er konnte nichts dagegen tun, dass regelmäßig einige von ihnen ausgerechnet in den Stunden nach Mitternacht in eine kritische Lage gerieten.
Der Anruf kam über den grünen Apparat. Die Farben – rot, grün und weiß – sagten ihm, wer am anderen Ende war, bevor er abhob. Es war genau vier Uhr. Er bedachte das grüne Telefon mit einem vernichtenden Blick, bevor er sich die Brille auf die Nase setzte und seine klauenhafte, von Altersflecken und hervortretenden Adern gezeichnete Hand nach dem Hörer griff.
Obwohl er genau wusste, dass es ein Problem gegeben hatte, kehrte seine äußerliche Ruhe sofort wieder zurück. Im Fall Chandler war etwas schief gelaufen. Das grüne Telefon sagte ihm, dass es nicht um Andrew und Liam ging, sondern um die beiden von auswärts. Er schürzte die Lippen und strich sich mit einem durch die pergamentdünne Haut schimmernden
Fingerknöchel über den weißen Schnurrbart. Dann nahm er den Hörer ab.
Um halb fünf fuhr sein Rolls-Royce am Dienstboteneingang des John-Hancock-Gebäudes vor. Die Ampeln am Copley Square blinkten in leere regennasse Straßen. Er schaltete die Scheinwerfer aus, huschte aus dem Wagen, schloss die Metalltür auf und nahm den Fahrstuhl zum sechzigsten Stock. Die Heizungs- und Klimaanlagen in den beiden darüber liegenden Stockwerken wummerten in der nächtlichen Stille.
Während er allein an einem Glastisch wartete, stopfte er seine Dunhill-Pfeife und fing an zu rauchen. In der Ecke der halb fertigen Aussichtsplattform, wo er sich mit seinen Untergebenen traf, war es feucht, kalt und zugig. Er paffte Rauchwolken in die Luft, als könnten sie ihn wärmen. Dann hüllte er sich fester in Schal und Regenmantel und fragte sich, ob sich das Ganze noch lohnte. Er war alt, seine Pumpe machte nicht mehr mit, sein Blut wurde dünner, er
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