Arabellas Geheimnis
die Frauen sicher nach London geleitet hatte, aus seiner Pflicht bereits entlassen worden? Der Gedanke schmerzte, auch wenn sie sich ins Gedächtnis rief, dass der fremde Ritter eine Gefahr für ihre Stellung bei Hofe bedeutete.
Ein Bote des Königs unterbrach Arabella bei ihrem Mahl. Die Nachricht, die er ihr überbrachte, besagte, dass der König und die Prinzessin sie heute Abend zu einer privaten Audienz erwarteten. Arabella unterdrückte ihre aufsteigende Angst, der König könnte bereits von ihrem Ruf erfahren haben und überlegte, weshalb dieses Treffen wohl stattfinden könnte. Sie bemerkte, dass der Weg des Boten ihn auch zu Rosalyn de Clair und schließlich zu einem erschöpft aussehenden Tristan führte, der offenbar in der Zwischenzeit auch an der Tafel erschienen war. Eine seltsame Konstellation, aber vielleicht hatte der Bote schon früher, noch bevor er zu Arabella gekommen war, seine Einladung an etliche andere übergeben. Außer …
In dem ganzen Durcheinander um ihre Entführung und Tristans Fieber hatte sie Rosalyns Baby völlig vergessen. Von Prinzessin Anne wusste sie, dass diese die Entscheidung, was mit Rosalyn geschehen sollte, nach der Ankunft in England ihrem neuen Gatten überlassen wollte. Würde der König heute Nacht während dieser Privataudienz einen Gatten für die Edelfrau bestimmen? Sie in Ungnade nach Hause zu schicken, hätte unter den vielen Freunden, die sie am böhmischen Hof besaß, Unwillen erregen können.
Arabella nahm kaum noch etwas vom Rest des Festes wahr, obwohl einzigartige Vergnügungen dargeboten wurden. Sie versuchte, nicht zu Tristan hinüberzuschauen, ertappte sich aber immer wieder dabei, wie seine hohe Gestalt ihre Blicke auf sich zog. Er war schmaler geworden während seiner Genesung. Eigentlich hätte er noch ruhen müssen, um wieder zu Kräften zu kommen. Arabella wusste nicht so recht, ob das die Gedanken einer Heilerin waren oder die einer Frau, die zärtlichere Gefühle für den Patienten hegte.
Eines jedoch war sicher. Jedes Verlangen nach dem englischen Ritter musste genauso gnadenlos unterdrückt werden wie der Wunsch, nach Hause zu fliehen. Denn wenn Tristan sie auch zärtlich umwarb und sie küsste, bis ihr die Knie weich wurden, er hatte sehr klar gezeigt, dass keine Frau je sein Herz erringen würde.
Der englische König war kein Krieger.
Das Essen hatte vor einigen Stunden geendet, und jetzt beobachtete Arabella verstohlen den König, während sie in dem großen Privatgemach darauf wartete, dass die Audienz begann. Mit fünfzehn Jahren war er nicht ganz so alt wie die Prinzessin. Seine Haare waren kinnlang. Nach dem Essen hatte er die Kleidung gewechselt und trug nun statt der purpurnen Samtrobe eine mit Pelz verbrämte scharlachrote Houppelande, unter der weiße Ärmel hervorlugten.
König Richards Privatgemach war ein großer Saal, der zu den königlichen Räumlichkeiten gehörte, die streng bewacht wurden. Er und Prinzessin Anne saßen in eifrigem Gespräch vertieft am Ende des Saales. Arabella war von dem schieren Luxus der Umgebung überwältigt. Wohin sie auch sah, überall erschienen auf irgendeine Art Richards rot-weiße Farben – in den Tapisserien, die von der Decke hingen, den Bezügen der aufwändig gearbeiteten Stühle und in den königlichen Gewändern. Das auffallendste Merkmal des Zimmers war ein prachtvoller Wandbehang, auf dem ein weißer, gekrönter und mit Lorbeer geschmückter Hirsch dargestellt war. Als Arabella ihre Bewunderung äußerte, erklärte ihr Maria, die ebenfalls zu der Zusammenkunft befohlen worden war, dass der weiße Hirsch das Wappen von Richards Mutter Joan of Kent war. Es war von dem jungen König übernommen worden.
Nachdem Arabella die Umgebung betrachtet hatte, konzentrierte sie sich nun auf die anderen Gäste. Neben Rosalyn, Arabella und Maria waren auch einige von Tristans Rittern anwesend. Mit ausgesprochen grimmigem Gesichtsausdruck gesellte sich Tristan ihnen zu. Arabella schaute zu Rosalyn hinüber, um ihre Reaktion auf den wütenden Ritter zu beobachten. Doch Rosalyn hatte den Blick zu Boden gesenkt und behielt ihre ernste Haltung bei. Endlich trug sie – zweifellos weil Prinzessin Anne darauf bestanden hatte – ein Gewand, das in der Taille nicht gar so eng war. Doch sie sah noch genauso schön aus, nein, sogar hübscher, als zuvor. Sie war reizend genug, um so ziemlich jeden Mann zu bekommen, den sie wollte. Wenn sie auch nur über einen Funken Verstand verfügte, versuchte sie nicht,
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