ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
waren so schmerzhaft und verwirrend. Es wäre so viel einfacher, wenn er nichts fühlen würde, keinen Schmerz – keine Schuld. Kein Verlangen.
Sein Vater hatte ihn zu dem gemacht. Als Wolf erkannt hatte, dass er im Begriff gewesen war, zu dem Ungeheuer zu werden, das sein Vater sich wünschte, hatte ihn die Erkenntnis veranlasst zu fliehen. Das Leben war leichter gewesen, als er sich um nichts hatte Sorgen machen müssen, leichter, als er noch seines Vaters Schoßmagier war. Um so viel leichter.
Seine Sehnsucht, zu dem zurückzukehren, was er hinter sich gelassen hatte, erschreckte ihn. Niemand, der nicht hier aufgewachsen war, konnte die Sucht nach der Verderbtheit seines Vaters verstehen. Aralorn hatte recht. Er brauchte sie, damit sie ihn davon abhielt, in seine alte Abhängigkeit zu verfallen und wieder zum Werkzeug seines Vaters zu werden. Allein zu wissen, dass sie da war und auf ihn achtgab, reichte aus, um ihn mit neuer Kraft zu erfüllen.
»Bleib«, sagte er nur.
Nachdem seine Entscheidung gefallen war, beachtete er sie nicht mehr. Er kniete sich hin und leerte den Inhalt des Rucksacks: eine wild zusammengewürfelte Kollektion von Gefäßen, die er offenbar wahllos vor sich aufstellte. Dann entkleidete er sich und begann mit einem Reinigungsritual, wozu er das Wasser aus einem Bach in der Nähe benutzte.
Eine Weile schaute ihm Aralorn zu, doch als er dann zu meditieren anfing, huschte sie davon – Mäuse bewegten sich selten ohne Eile. Als sie sich außerhalb seiner Sichtweite befand, nahm sie ihre eigene Gestalt an und schlich sich davon.
Als sie eine Stelle erreichte, wo sie einen guten Blick auf die Burg hatte, blieb sie stehen. Es war schon komisch, dass sie in ihrer Vorstellung immer schwarz gewesen war, so wie sie ihr die beiden Male, als sie dieses Gemäuer des Schreckens verlassen hatte, erschienen war. Jetzt, im Sonnenlicht, funkelte die Burg in einem perlmuttfarbenen Grau, beinahe Weiß. Man konnte sich gut und gern einen edlen Ritter dazu vorstellen, der hinausritt, sich dem bösen Drachen zu stellen. Sie hoffte, dass in dieser Geschichte der Drache (begleitet von seiner getreuen, furchtlosen Maus) den Ritter besiegen würde.
Sie grub ihre Finger in die Rinde des Baums neben ihr und legte ihre Wange an die raue Oberfläche, verschloss die Augen vor der äußerst realistischen Möglichkeit, dass diese Geschichte ausgehen würde wie alle anderen – mit einem Ritter, der glücklich weiterlebte bis ans Ende seiner Tage, und einem Drachen, der dalag in seinem eigenen Blut.
Als die Schatten länger wurden, huschte Aralorn – nun wieder als Maus – zu der Stelle zurück, wo Wolf mit geschlossenen Augen in Meditation versunken saß. Das letzte Licht des Tages ruhte wie in einer zärtlichen Berührung auf seinem glattrasierten, makellosen Gesicht. Der Anblick seiner narbenlosen Züge lenkte sie für einen Moment von seiner Nacktheit ab.
Aralorn versuchte gegen die Mutlosigkeit, die sie ergriffen hatte, anzukämpfen, wusste, dass er, wenn er sie in diesem Moment mit seinen allzu scharfsichtigen Augen ansah, ihre Angst erkennen würde. Es hatte etwas Verstörendes, in jemanden verliebt zu sein, dessen Antlitz dem Gesicht in ihren Albträumen glich.
Nun, wie ihre Stiefmutter gesagt hätte, wenigstens sieht er gut aus. Und sein Gesicht war nicht das einzig Schöne an ihm.
Ungeniert hüpfte sie auf sein Bein und war im Nu auf seiner Schulter, nicht ohne bei seinem überraschten Zusammenzucken ein leicht boshaftes Vergnügen zu verspüren. Als er den Kopf wandte, um sie verärgert anzustarren, küsste sie ihn auf die Nase und begann sodann emsig ihre Vorderpfötchen zu putzen. Mit einem Geräusch, das vielleicht ein Lachen gewesen war, fuhr er ihr sanft mit dem Finger über den Rücken, strich ihr Fell gegen den Strich. Sie biss ihn – aber nicht zu fest.
Er glättete ihren Pelz und setzte sie auf den Boden, um sich wieder anzuziehen. Ihr fiel auf, dass es nicht dieselben Kleider waren, die er ausgezogen hatte. Tatsächlich sahen sie überhaupt nicht wie irgendetwas aus, das sie ihn je tragen gesehen hatte. Die Hauptfarbe war nach wie vor schwarz, allerdings mit einem silbernen Faden hübsch bestickt. Das Hemd war tailliert und an den Armen bauschig und reichte ihm ein gutes Stück bis über die Hüfte, was ganz gut war, denn die Hosen waren unanständig eng, sogar vom Mäuseblickwinkel aus betrachtet. Sie nahm das schwache Flimmern von Magie in dem Stoff wahr und vermutete, dass die Kleider,
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