ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
wahre Natur vor ihr zu verbergen. Etwas, das eigentlich unmöglich schien – aber andererseits sollte nichts von dem, was er war, möglich sein.
Es war unwahrscheinlich, dass er ein Menschenmagier war, da sich Menschenmagie für Gestaltwandlung nicht sonderlich gut eignete. Anstatt eine Harmonie mit den Kräften der Natur herzustellen, versuchte die Magie der Menschen, diese zu kontrollieren. Und sie erforderte überdies eine enorme Konzentration, die sich unmöglich über längere Zeit aufrechterhalten ließ. Um sich nahezu dauerhaft in ein Tier zu verwandeln, bedurfte es schon der Kräfte eines ae’Magi … oder denen seines Sohns.
Aralorns sonst so flinken Finger versagten ihr plötzlich mitten in dieser alltäglichen Verrichtung den Dienst, also ließ sie die Sattelriemen los und starrte auf ihre Hände, die nun ohne ihre Einwilligung zitterten. Eine unvernünftige Furcht drohte von ihr Besitz zu ergreifen, während sie ihren Gedanken zu entkräften versuchte. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Wolf ein Menschenmagier war, erinnerte sie sich noch einmal. Sie schaute hinüber zu ihm, starrte dann wieder auf den Sattel und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen: Der Sohn des ae’Magi war vor sechs Jahren verschwunden. Es gab außer ihrem Volk noch andere Anwender grüner Magie. Und sie hatte noch nie von einem Menschenmagier gehört, der eine Tiergestalt annehmen und so lange aufrechterhalten konnte. Nichts dergleichen fand sich auch nur in einer der Geschichten, die sie bisher gehört hatte – ae’Magi hin oder her. Doch all diese Überlegungen taten ihrer Panik keinen Abbruch; Angst war eine schwer zur Räson zu bringende Emotion. Diese Erfahrung war ihr nicht neu.
Sie schaute ein weiteres Mal zu ihm hinüber, und er erwiderte ihren Blick und hielt ihm stand, seine goldenen Augen so unerforschlich wie zwei Bernsteinjuwelen. Sie musste an die fiebrige Agonie denken, die bei ihrer ersten Begegnung in ihnen gelegen hatte.
Sie hatte nur eine Woche gebraucht, um sein Bein zu heilen, aber mit dem Fieber hatte er fast einen Monat gekämpft. Sobald er wieder aufstehen konnte, hatte er sie verlassen, zumindest für eine Weile. Und eines Tages dann, als sie kurz aufgeblickt hatte, hatte er mit einem Mal wieder vor ihr gestanden und sie mit seinen beunruhigend klugen Augen betrachtet. Von da an kam und ging er, wie es ihm passte, blieb manchmal für Monate fort und tauchte dann so plötzlich, wie er verschwunden war, wieder auf.
Sie dachte daran, wie lange es gedauert hatte, sein Vertrauen zu gewinnen. Es hatte Zeit gebraucht, bis er sich von ihr hatte anfassen lassen, noch mehr Zeit, bevor er das Futter annahm, das sie ihm gab – und beinahe ein Jahr, bis er ihr genug vertraute, um ihr zu offenbaren, dass er mehr war als nur ein wildes Tier. Sie verglich seine Unnahbarkeit mit dem liebenswürdigen Lächeln und der wohlklingenden Stimme des ae’Magi. Falls ihr jemals, dachte Aralorn, eine sprechende Leiche über den Weg laufen sollte, dann würde ihre Stimme vermutlich der ihres Wolfes ähneln.
Der Wolf beobachtete sie und sah, was ihr die Zeit bei dem Erzmagier angetan hatte. Sah das Zittern ihrer Hände und roch ihren Angstschweiß. Sah, dass ihre Heiterkeit nur aufgesetzt war, und seine Hoffnung, dass sie die Machenschaften des ae’Magi wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden haben könnte, schwand zusehends. Der Wunsch, den Magier zu töten, stieg in ihm auf, doch wurde bis auf Weiteres hintangestellt. Er sah die Furcht in ihren Augen und ging näher auf sie zu, um sie zu trösten. Erst da begriff er, dass sie sich vor ihm ängstigte.
Abrupt blieb er stehen. Damit hatte er am allerwenigsten gerechnet. Vier Jahre, und nicht ein Mal hatte er bei ihr die Angst wahrgenommen, die er bei allen anderen hervorrief. Nicht einmal dann, als sie allen Grund gehabt hätte, sich zu fürchten.
Die altbekannte, schmerzende Bitterkeit, die diese Erkenntnis mit sich brachte, weckte in ihm den Impuls zu fliehen. Wären sie an einem anderen Ort gewesen, wäre er ohne einen Blick zurück weggegangen. Aber hier, in der Nähe der Burg, befand sich Aralorn nach wie vor in ernster Gefahr; er konnte die Erregung der »Schoßtiere« des ae’Magi schon riechen. Aralorn würde sie sich trotz ihrer Ausbildung und beeindruckenden Kampffertigkeiten nicht allein vom Hals halten können – so gut war sie nicht. Zudem war sie nach drei Wochen Gefangenschaft nicht gerade in Hochform. Also blieb er.
Wer immer er war, was immer er
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