ARALORN - Die Wandlerin: Roman (German Edition)
der Bibliothek angekommen, war das Erste, was sie bemerkte, dass ihre Aufzeichnungen überall verstreut herumlagen. Eines der Blätter, die sie am vorangegangenen Tag beschrieben hatte, lag auffällig nah bei Wolfs Arbeitsplatz. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass es der Zettel war, auf dem sie sich in Stichworten die Geschichten aus dem Buch vom Vortag notiert hatte. Sie war noch nicht dazu gekommen, Wolf von der Zauberformel des Lehrlings zu erzählen, mit der sich Magie aufheben ließ.
Wolf nahm das Blatt Papier zur Hand und las aufmerksam ihr eng geschriebenes Gekritzel – aber vielleicht, dachte sie schuldbewusst, war ihre Handschrift auch so schwer zu entziffern, dass seine volle Konzentration dazu erforderlich war. Aralorn strich ihre anderen Notizen glatt und schaute sich dann in der Bibliothek um. Welche Art Lufthauch vermochte einen Bogen Papier unter einem Bücherstapel hervorzuzerren, der sich noch immer dort befand, wo sie sie zurückgelassen hatte? Wäre nicht Wolf bei ihr gewesen, wäre ihr jetzt wohl ein bisschen unheimlich geworden; so war sie einfach nur neugierig.
»Ich nehme nicht an, dass irgendwo auch der Name dieses Zauberschülers, der eine Methode entwickelt hat, um Magie aufzuheben, erwähnt wurde?« Wolf legte das Blatt Papier auf den Tisch.
Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein. Und ich kann mich nicht erinnern, dass mir diese Geschichte jemals vorher untergekommen wäre, also kann sie nicht sehr bekannt sein.«
Wolf tippte ungeduldig mit einem Finger auf das Blatt. »Ich habe diese Geschichte schon mal irgendwo anders gelesen, vor langer Zeit. Und ich weiß, dass in meiner Fassung auch der Name des Schülers gestanden hat. Ich muss mich bloß noch erinnern, in welchem Buch ich sie gefunden hab.« Einen Moment lang stand Wolf schweigend da, dann schüttelte er verärgert den Kopf. »Sehen wir erst mal zu, dass wir hier weiter vorankommen« – er winkte in Richtung der Regale –, »ich hoffe, es fällt mir später wieder ein.«
Sie setzten sich wieder auf ihre Stühle und lasen und lasen und lasen. Aralorn quälte sich durch drei ziemlich langweilige Chroniken, bevor sie auf etwas von Interesse stieß. Gerade als sie die letzte Seite der Geschichte des Hauses Zorantra las (das bekannt war für das Keltern eines ziemlich zweitklassigen Weins), gab der Buchrücken des schlecht erhaltenen Wälzers nach.
Als sie den Schaden begutachtete, bemerkte sie, dass der hintere Buchdeckel aus zwei Lederstücken bestand, die mit Sorgfalt zusammengenäht worden waren, um einen schmalen Zwischenraum zu verbergen – gerade groß genug für die zusammengefalteten Blätter, die er enthielt. Sie befreite die Seiten aus ihrem Geheimversteck und faltete sie vorsichtig auseinander.
Mittlerweile war Wolf es gewöhnt, dass Aralorn manchmal ohne Vorankündigung einfach zu lachen begann, aber er hatte gerade die Entzifferung einer besonders nutzlosen Zauberformel beendet und konnte eine kurze Pause gut gebrauchen.
»Was gibt’s?«
Sie grinste ihn an und wedelte mit dem brüchigen Pergament in seine Richtung. »Sieh dir das mal an. Das war in einem Buch versteckt. Dachte, das könnte vielleicht eine Zauberformel oder irgendwas anderes Interessantes sein, aber es sieht so aus, als ob der frühere Eigentümer dieses Buchs ein echter Künstler gewesen wär.«
Er nahm die Blätter, die sie ihm hinhielt, entgegen. Sie zeigten unwahrscheinlich bestückte nackte Gestalten in noch unwahrscheinlicheren Stellungen. Er wollte sie ihr schon zurückgeben, als er jäh innehielt und sie sich genauer ansah.
Im nächsten Moment knüllte er die Blätter zusammen und ließ sie in Flammen aufgehen. Jemand hatte sie mit Schutz- und Versteck-Dich-Zaubern belegt, was zweifellos der Grund dafür war, dass Aralorn nicht ihre Macht gespürt hatte, doch die alte Magie konnte seinem Willen nicht widerstehen. Die Zeichnungen – angefertigt auf Menschenhaut, aber das hatte er Aralorn nicht vor zu sagen – loderten silbern und tief purpurrot, bevor sie sich zu rötlich goldenem Feuer beruhigten. Er ließ die züngelnden Fetzen fallen, und sie wehten hinab auf den Tisch, verbrannten zu Asche, noch bevor sie ihn berührten. Wenn es nach versengtem Fleisch roch, so würde sie wahrscheinlich nur annehmen, dass die Seiten aus Ziegenleder gewesen waren.
»Wolf?«
»Du hattest recht mit deiner ersten Vermutung.« Er schaffte es nicht, sie anzusehen. »Es ist eine Zauberformel. Eine ziemlich derbe Darstellung, wie man einen
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