Arche Noah | Roman aus Ägypten
Ich betrachte ihn gern ganz aus der Nähe, denn dann sind die weichen Züge, die er hinter einer strengen Professorenmiene zu verbergen sucht, deutlich erkennbar. Ich streckte mich aus, legte die Füsse auf die Armlehne und den Kopf auf seinen Schenkel. Liebevoll strich er mir durch die Haare. Dass ich blond bin, gefällt ihm besonders. Eine ganze Weile schon hatte mir eine Frage auf der Zunge gebrannt, nun fasste ich mir endlich ein Herz. »Warum bist du aus deinem Land weggegangen und hierhergekommen?«
»Um dich kennenzulernen«, antwortete er.
»Das war Gottes Wille. Aber warum hast du diesen Schritt getan, wo du Ägypten doch so sehr liebst, wie du immer sagst?«
»Ägypten wirkt von aussen betrachtet politisch stabil, doch in Wirklichkeit brodelt ein Vulkan unter der Oberfläche. Nachts hört man die Lava bedrohlich laut rumoren. Es dauert nicht mehr lange, und sie wird sich entladen. Die allgemeine Angst vor dem Ausbruch dieses Vulkans lässt die Menschen den Verstand und die Hoffnung verlieren. Dieser Zustand gab mir – wie allen Ägyptern, die in einigermassen soliden Verhältnissen leben – das Gefühl, dass Sicherheit ein glücklicher Zufall ist. Und Glück ist, wie du weisst, nicht von Dauer. Glaub mir, das Gefühl, nur rein zufällig in Sicherheit zu leben, erschüttert den Menschen in seinen Grundfesten. Diesen Zustand habe ich nicht mehr ertragen.«
»Ich bin deine Frau, Murtada, und keine Studentin, der du einen philosophischen Vortrag halten musst. Dass du aus Ägypten weggegangen bist, hat sicher andere Gründe. Zu diesem Schrittmüssen konkrete Ereignisse geführt haben und ganz bestimmt keine theoretische Analyse der Lage. Was ich hören wollte, ist, dass du einem Mann oder vielmehr einer Frau begegnet bist, dies oder jenes zu ihr gesagt hast, sie etwas anderes geantwortet hat und du dann beschlossen hast, das Land zu verlassen. Aber du willst offensichtlich nicht darüber reden, und das ist dein gutes Recht.«
»Eben weil du meine Frau bist und ich dich liebe, möchte ich über etwas anderes sprechen. Ich würde dir gern von meiner Familie erzählen. Was hältst du davon?«
»Grossartige Idee.«
S uâds Stimme klang Murtada sanft in den Ohren. Von der Erinnerung in die Vergangenheit entführt, sah er, wie sie vertraut zusammensassen und sich unterhielten. Er sprach von den politischen Vulkanausbrüchen und Erdbeben, worauf sie ein Lied anstimmte.
Hennarot der Fuss, wie in Blut getaucht.
Der Reif am Fuss rasselt, die Erde bebt.
Stampf auf, du schöne Gazelle, mit Wucht,
damit die Erde fortan immer bebt.
»Ja, Murtada, betrachtest du meinen Fussreif, dann bebt in deinen Augen die Erde wie von einem Vulkan entfesselt«, sagte Suâd mit einnehmendem Charme, so dass er vor ihr hätte auf die Knie sinken können. »Das verstehe ich als eine Liebeserklärung an meinen goldenen Fussreif. Du schaust ihn an, und in deinem Herzen bricht ein Vulkan aus. Aber …« Sie schwieg abrupt, beugte sich zu ihm und flüsterte zärtlich in sein Ohr: »… in Ägypten gibt eskeine Vulkane, mein Lieber, dafür aber den Kamsin, der nun schon recht lange tobt.«
»Ich sehe da keinen wesentlichen Unterschied. Der Kamsin richtet Verwüstung an. Und der Vulkan bringt die Erde zum Beben und richtet folglich auch Verwüstung an.«
»Der Kamsin ist ein heftiger Sturm«, entgegnete sie und strich ihm über das grobe, dichte Haar, »und er wird vorüberziehen, wie jeder Sturm. Vulkane dagegen sind Teil der Erde. Unsere ägyptische Erde aber besteht aus Schlamm und Samen – und sonst nichts.«
D er »hennarote Fuss« war in weite Ferne gerückt, jetzt, da er zusammen mit Deborah Vivaldis Vier Jahreszeiten lauschte, dirigiert von Herbert von Karajan.
Murtada strich Deborah über das glatte blonde Haar und betrachtete ihre blauen Augen. Ganz bestimmt werde er nicht von dem Tropfen erzählen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, dachte er bei sich. Der gehe nur ihn etwas an.
Murtada hatte versucht, den Vorfall aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Etwa ein Jahr nach Suâds Tod hatte Oberstleutnant Salâch Abdalnabi die Leitung des Sicherheitsbüros im Erdgeschoss des Fakultätsgebäudes übernommen. Ein stattlicher Mann, stets ein Lächeln auf den Lippen, gab er sich dem Lehrpersonal gegenüber freundlich-wohlwollend. Innerhalb kürzester Zeit hatte er beste Beziehungen zum Dekan und zu dem für die studentischen Belange zuständigen Prodekan aufgebaut. Auch Doktor Murtada hatte in seiner Eigenschaft als
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