Archer Jeffrey
verschloß ihren Schreibtisch und hoffte, ihrem Chef würde nicht auffallen, daß seine E-MailBox fast leer war. Sie stieg die alte Treppe hinauf zum Erdgeschoß, schob ihren Paßschlüssel in den Schlitz der elektronischen Sicherheitskontrolle am Ausgang und ging an den vereinzelten Arbeitern vorüber, die zur Frühschicht kamen.
Nachdem die Scheinwerfer brannten, fuhr sie ihren nagelneuen Wagen aus dem Parkplatz und durchs Tor und bog nach Osten auf den George Washington Parkway ein. Der Asphalt war stellenweise noch mit verharschtem Schnee vom Eissturm des vergangenen Abends bedeckt, und die Highway-Räummannschaften bemühten sich, die Straße vor dem morgendlichen Berufsverkehr frei zu kriegen. Normalerweise machte es Joan Spaß, frühmorgens durch Washingtons verlassene Straßen zu fahren, vorbei an den prächtigen Monumenten der amerikanischen Geschichte. Wenn ihre Lehrerin von Washington, Jefferson, Lincoln und Roosevelt erzählte, hatte sie in der Schule in St. Paul vor Erregung stumm auf ihrem Platz in der vorderen Reihe gesessen. Ihre Bewunderung für diese heroischen Gestalten war der Anlaß für ihr Interesse am Staatsdienst gewesen.
Nach ihrem Politologiestudium an der Universität von Minnesota hatte sie die Bewerbungsformulare für das FBI und die CIA ausgefüllt. Von beiden war sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden, doch sobald sie bei Connor Fitzgerald vorgesprochen hatte, sagte sie ihr Einstellungsgespräch beim FBI ab. Fitzgerald war ein Mann, der aus einem sinnlosen Krieg mit einem Tapferkeitsorden heimgekehrt war, den er nie erwähnte, und der seinem Land ohne öffentliche Anerkennung weiterhin diente. Wenn sie Connor gegenüber je solche Gedanken aussprach, hatte er nur gelacht und sie sentimental genannt. Doch Tom Lawrence hatte recht gehabt mit seiner Charakterisierung Connors als einem stillen Helden der Nation. Sie würde Maggie vorschlagen, sich sofort ans Weiße Haus zu wenden; immerhin war Lawrence es gewesen, der Connor gebeten hatte, diesen einen Auftrag noch auszuführen.
Joan war dabei, ihre Gedanken halbwegs logisch zu ordnen, als ein großer grüner Laster mit Streusand sie auf der Außenspur zu überholen begann und sich daranmachte, auf ihre Spur zu wechseln. Joan betätigte die Lichthupe, doch der Laster wich nicht aus, wie sie es eigentlich erwartet hatte. Sie blickte in den Rückspiegel und wechselte auf die mittlere Fahrspur. Sofort bog auch der Lastwagen auf diese Spur ab und zwang sie, scharf auf die linke Fahrbahn auszuweichen.
Joan mußte sich blitzschnell entscheiden, ob sie auf die Bremse oder aufs Gas treten sollte, um an dem rücksichtslosen Fahrer vorbeizukommen. Wieder warf sie einen raschen Blick in den Rückspiegel und sah bestürzt, daß ein großer schwarzer Mercedes mit Höchstgeschwindigkeit hinter ihr heranraste. Kurz vor Spout Run, wo das Ufer steil abfiel, trat Joan hastig aufs Gaspedal. Der kleine Passat reagierte augenblicklich, aber auch der Streusandlaster beschleunigte – und er war schneller.
Joan blieb keine Wahl, als noch weiter links zu fahren, fast auf dem Mittelstreifen. Wieder blickte sie in ihren Rückspiegel und sah, daß der Mercedes schon sehr nahe hinter ihr war. Sie spürte, wie ihr Herz hämmerte. Arbeiteten der Fahrer des Lasters und der Chauffeur des Mercedes zusammen? Sie versuchte langsamer zu fahren, doch der Mercedes kam immer näher an ihre Stoßstange heran. Noch einmal trat sie aufs Gas, und der Passat schoß nach vorn. Schweiß rann ihr über die Stirn in die Augen, als sie auf gleicher Höhe mit dem Lastwagen war, aber selbst, als sie das Gaspedal ganz durchgetreten hatte, konnte sie ihn nicht überholen. Sie starrte zum Führerhaus hinauf und bemühte sich, die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich zu lenken, doch der Mann beachtete ihre verzweifelten Handbewegungen nicht und lenkte den Laster unerbittlich Fuß um Fuß weiter nach links. So zwang er Joan, langsamer zu fahren und hinter ihm zu bleiben. Aufs neue hielt sie im Rückspiegel Ausschau: Der Mercedes war ihrer Stoßstange noch naher gekommen.
Als Joan wieder nach vorn blickte, begann der Laster, den Sand auf die Straße zu kippen. Instinktiv trat Joan die Bremse durch. Der kleine Wagen geriet außer Kontrolle, rutschte über den vereisten Mittelstreifen und sauste das grasige Ufer hinunter zum Fluß. Wie ein Stein schlug er auf dem Wasser auf und verschwand, nachdem er kurz auf der Oberfläche getrieben hatte, in der Tiefe.
Nur die Bremsspuren am Ufer
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