Archer, Jeffrey
ließ Florentyna nicht im Zweifel darüber, daß Miss Tredgold ihre Lehrtätigkeit mit der gleichen Hingabe fortgeführt hatte, die Florentynas ganzes Leben entscheidend beeinflußt hatte. Sie versuchte, nicht zu weinen, weil sie wußte, daß Miss Tredgold es mißbilligt hätte, aber als der Lieblingschor ihrer Lehrerin erklang, konnte sie die Tränen nur mit Mühe zurückhalten.
Nach dem Gottesdienst stand Florentyna mit den übrigen Trauergästen auf dem kleinen Friedhof und sah den Sarg mit Miss Tredgolds sterblichen Überresten unter der Erde verschwinden. Die Direktorin, ein Ebenbild der Verschiedenen – unglaublich, daß es solche Frauen noch gibt, dachte Florentyna -, machte sich erbötig, Florentyna die Schule zu zeigen. Florentyna erfuhr, daß Miss Tredgold nur mit ihren engsten Freundinnen über ihren ehemaligen Zögling gesprochen hatte, doch als diese Direktorin den Gast in das Schlafzimmer der Verstorbenen führte, konnte Florentyna die Tränen nicht länger zurückhalten. Neben dem Bett stand eine Fotografie von Miss Tredgolds Vater und daneben, in einem schmalen Silberrahmen, ein Bild von Florentyna bei der Abschlußfeier der Latin Girls School. In der Nachttischlade lagen alle Briefe, die Florentyna ihr in den letzten dreißig Jahren geschrieben hatte. Der letzte lag ungeöffnet neben dem Bett.
»Wußte sie, daß ich in den Senat gewählt wurde?« fragte Florentyna leise.
»Natürlich, die ganze Schule betete an diesem Tag für Sie. Es war das letztemal, daß Miss Tredgold in der Kapelle die Predigt las. Vor ihrem Tod bat sie mich, ihnen zu schreiben, sie habe das Gefühl, ihr Vater hätte recht gehabt – sie hatte tatsächlich jemanden erzogen, der berufen sei. Sie dürfen nicht weinen, meine Liebe. Miss Tredgolds Glaube an Gott war unerschütterlich, und sie verschied in vollkommenem Frieden. Sie bat mich auch, Ihnen ihre Bibel und diesen Umschlag zu geben, den Sie erst nach Ihrer Rückkehr öffnen dürfen. Er enthält etwas, das sie Ihnen vermacht hat.«
Florentyna dankte der Direktorin für ihre Freundlichkeit und fügte hinzu, sie sei überrascht gewesen, vom Küster empfangen worden zu sein, da doch niemand gewußt habe, daß sie kommen würde.
»Ach, das darf Sie nicht wundern, mein Kind«, sagte die Direktorin, »ich zweifelte keine Sekunde an Ihrem Erscheinen.«
Den Umschlag fest an sich gepreßt, fuhr Florentyna nach London zurück. Sie fühlte sich wie ein Kind, das ein Päckchen bekommen hat, aber weiß, daß es erst am Geburtstag geöffnet werden darf. Um halb sieben Uhr abends flog sie mit der Concorde zurück, kam um halb sechs in Washington an und saß um halb sieben Uhr wieder an ihrem Schreibtisch im Russell Building. Sie sah auf die Worte »Florentyna Kane« auf dem Umschlag, dann öffnete sie ihn langsam: er enthielt den Beleg über viertausend Aktien der Baron-Gruppe. Miss Tredgold hatte vermutlich nie geahnt, daß sie mehr als eine halbe Million Dollar besaß. Florentyna stellte einen Scheck über fünfundzwanzigtausend Pfund für ein neues Kirchendach in memoriam Miss Winifred Tredgold aus und schickte die Aktien an Professor Ferpozzi für die RemagenStiftung. Als Richard davon hörte, erzählte er Florentyna, sein Vater habe einmal ebenso gehandelt, allerdings habe er nur eine Summe von fünfhundert Pfund benötigt. »Es scheint, daß auch der liebe Gott von der Inflation betroffen ist«, fügte er hinzu.
Washington bereitete sich wieder einmal auf eine Inauguration vor. Diesmal befand sich Senatorin Kane auf der Tribüne der Ehrengäste vor dem Podium, von dem aus der neue Präsident seine Rede halten würde. Aufmerksam hörte sie zu, als er seine Vorstellungen über die amerikanische Politik der nächsten vier Jahre darlegte, die jetzt allgemein als »der Neue Weg« bezeichnet wurden.
»Jedesmal kommst du dem Podium etwas näher«, hatte Richard beim Frühstück gesagt.
Florentyna sah sich unter ihren Kollegen und Freunden um. Sie fühlte sich jetzt wohl in Washington. Senator Ralph Brooks, eine Reihe vor ihr, war dem Präsidenten noch näher. Er wandte den Blick keinen Moment lang vom Podium.
Florentyna saß im Unterausschuß für Verteidigungsausgaben, im Ausschuß für Umweltschutz und öffentliche Arbeiten und leitete den Ausschuß für Gewerbetreibende.
Wieder glichen ihre Tage einer endlosen Jagd nach mehr Zeit. Janet und andere Mitarbeiter informierten sie in Fahrstühlen, Autos, Flugzeugen und selbst auf dem Weg von einer Sitzung zur anderen.
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