Aristos - Insel der Entscheidung
und die Zeit schien abermals stillzustehen, nein, rückwärts zu laufen!
Plötzlich wusste sie, dass sie noch existierte, ihre Verbindung – und er kannte sie besser, als ihr lieb war! Ob er ahnte, was gerade in ihr vorging? Wie viele Emotionen in ihr tobten, seit sie ihm vorhin am Hafen in die Arme stolperte? Dass nur er die Macht hatte, in ihr ein solches Durcheinander auszulösen?
Ein durchdringender Handyton brach den Bann. Und während Jamie sich hinunterbeugte, um in seinem Rucksack nach dem Telefon zu fischen, wandte Andreas den Blick von ihr ab und wieder der Straße zu.
Kraftlos sank Louisa in ihrem Sitz zusammen.
Grinsend begann ihr Bruder eine Antwort auf die Textnachricht seines Kumpels zu schreiben. Sofort schien seine Laune gebessert. Auch wenn sie seine Handysucht nie verstehen würde, wirkte das gleichmäßige Geräusch, das seine Finger auf der Tastatur des Telefons vollführten, sonderbar beruhigend auf sie.
Schließlich hatte sie genug Mut gesammelt, um einen erneuten Blick in den Rückspiegel zu wagen. Oh, mein Gott! Er sah sie schon wieder an! Anscheinend konnte auch er seine Augen nicht von ihr lassen.
Früher hatten sie sich ständig Nachrichten geschrieben. Lauter süße, sinnlose Dinge wie „Was machst du gerade?“, „Vermisst du mich auch so?“ und „Ich wünschte, du wärst jetzt bei mir“. Ob er sich daran noch erinnerte?
Angespannt versuchte sie, eine bequemere Position in ihrem Sitz zu finden. Am Anfang ihrer Beziehung waren Mobiltelefone noch lange nicht so verbreitet gewesen wie heute, und auch SMS waren beinahe unbekannt. Daher hatten sie oft viele Stunden am Telefon verbracht. Ohne die unzähligen Ferngespräche hätte sie die langen Trennungszeiten auch kaum aushalten können.
„Was für einen pflichtbewussten Bruder ich doch habe“, pflegte Alex in sarkastischem Ton festzustellen, wenn das schrille Klingeln Andreas’ allabendlichen Anruf ankündigte. „Andererseits würde unsere Mutter ihm auch den Kopf abreißen, wenn er sein kleines Frauchen ganz bei uns vergäße.“
Kein Mitglied des Markonos-Clans war ihr gegenüber derart feindlich gestimmt wie Alex. Ständig hatte er ihr vorgeworfen, sie hätte das Leben seines Bruders zerstört. „Egal wo er hinkommt, Andreas liegen überall die schönsten Frauen zu Füßen. Glaubst du wirklich, dass er dir treu bleibt, während du hier bei uns jeden Tag fetter wirst mit deinem Babybauch?“
Als sie den Blick vom Spiegel abwandte, fragte sich Andreas, was plötzlich den tiefen Schmerz in ihren Augen hervorgerufen hatte.
Ich wahrscheinlich. Wer denn sonst? dachte er bitter. Verdammte Erinnerungen! Anscheinend wurde nicht nur er von den Schatten der Vergangenheit verfolgt. Und selbst Louisas Bruder ließ sie nicht in Ruhe. Eigentlich war er einmal gut mit ihm befreundet gewesen, jetzt sah Jamie ihn an, als wäre er eine giftige Schlange oder ein widerliches Insekt. Und das tat weh. Richtig weh. Irgendwie traf es einen wunden Punkt, von dem er seit Jahren geglaubt hatte, es gäbe ihn nicht mehr und den er am liebsten auch in Zukunft nicht berühren wollte.
Energisch schluckte Andreas gegen den dicken Kloß in seinem Hals an. Louisa war und blieb die Mutter seines geliebten Sohnes! Egal wie viel Zeit verging oder wie sehr sie sich veränderte.
Aber eigentlich hat sie sich gar nicht verändert, stellte er mit einem forschenden Blick in den Rückspiegel fest. Ihr wunderschönes Gesicht hatte seine weichen, femininen Konturen behalten, und auch die weit auseinanderstehenden blauen Augen, die gerade kleine Nase und ihr sinnlicher Mund waren noch genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Wie er das Gefühl dieser vollen, weichen Lippen auf seinen geliebt hatte!
Entschlossen ignorierte er das plötzlich in ihm aufsteigende Verlangen und richtete den Blick wieder auf die Straße. Wenn sein Körper noch immer so auf sie, auf ihren bloßen Anblick reagierte, sah er besser nicht mehr in den Rückspiegel!
Geräuschlos bog der Wagen in das dunkle Waldgebiet im Westen der Halbinsel ein. Ein Ortsunkundiger hätte wohl nie vermutet, dass dieser finstere, holprige Sandweg zum einzigen Hotel auf Aristos führte. Doch das weiße, in mediterranem Stil erbaute Gebäude, zu dem eine gemütliche kleine Taverne gehörte, lag direkt an einem der schönsten Strände. Einen Großteil der Insel bedeckten dichte Wälder. Riesige Steinpinien und Platanen, Zedern und Kastanienbäume spendeten selbst in der größten Mittagshitze, wenn die Luft
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