Arkadien 03 - Arkadien fällt
ein wenig sicherer, aber das verging, als sie die Tauben sah, die auf dem Boden der Bahnhofshalle nach Nahrung suchten – und alle im selben Moment die Köpfe hoben und ihnen entgegenblickten.
Rosa drohte zu stolpern, als sie an den Tieren vorüberliefen. Sie erinnerte sich an Florindas unerklärliche Furcht vor Vögeln. An die verbrannten Nester im Brunnen des Palazzo Alcantara.
»Der fährt gleich los«, rief Alessandro.
Draußen auf dem ersten Gleis führte ein Schaffner gerade die Pfeife zum Mund.
Sie rannten durch die Glastüren auf den Bahnsteig. Der Schaffner wandte ihnen den Rücken zu. Keuchend erreichten sie den Zug und stürzten in den erstbesten Waggon. Als Alessandro die Tür hinter ihnen schloss, ertönte der Pfiff. Eine zweite Tür schlug, irgendwo weiter hinten. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Wortlos eilten sie an leeren Abteilen vorbei, ehe Rosa sagte: »Das hier ist so gut wie jedes andere.«
Alessandro wirkte blass, als sie sich auf gegenüberliegende Sitze am Fenster fallen ließen. Ihr Blick wanderte von ihm zu seinem Spiegelbild in der Scheibe, fokussierte sich durch sein Abbild hindurch auf die Lichter des vorüberrollenden Bahnsteigs.
Auf Querstreben unter dem Vordach saßen Dutzende Tauben. Manche kauerten im Schatten, andere im bleichen Schein der Bahnhofsbeleuchtung.
Sie alle starrten den Zug an.
Alle erwiderten Rosas Blick.
Hatte er die Wahrheit gesagt über Alizas Tod?
Rosa sah hinaus ins Dunkel, auf Silhouetten von Hügelkuppen, graue Bäume, verlassene Straßen, die unbeschrankt die Gleise kreuzten. Die Nacht war eine schwarze Leinwand, auf die das Abteillicht ihre Gesichter projizierte, zwei geisterhafte Masken. Sie waren hundemüde und zugleich aufgekratzt von ihrer Flucht aus Ragusa.
Hatte er die Wahrheit gesagt?
Vielleicht musste sie ein für alle Mal vergessen, dass er sie schon zweimal belogen hatte. Erst auf der Isola Luna, kurz nach ihrer Ankunft auf Sizilien, dann erneut, als er den Mordanschlag auf Michele in Auftrag gegeben hatte. Das eine war lange her, sie hatten sich kaum gekannt und sie hatte es ihm längst verziehen. Mit der zweiten Lüge hatte er sie schützen wollen, und die Sache hätte Rosa nicht halb so wütend gemacht, wenn sie die Wahrheit nicht ausgerechnet von Avvocato Trevini erfahren hätte.
Und nun Alizas Tod. Wahrscheinlich war es so gewesen, wie er sagte. Aliza hatte ihn angegriffen, er hatte sich verteidigt. Warum also konnte sie ihm nicht einfach glauben? Weshalb stellte sie seine Aufrichtigkeit in Frage? Sie kannte die Antwort, auch wenn sie sie nicht wahrhaben wollte: Er hatte sich verändert. Seit Fundlings angeblichem Tod, vielleicht schon über längere Zeit hinweg, war eine schleichende Wandlung mit ihm vorgegangen.
Er hatte bekommen, wofür er gekämpft hatte, die Rache an Cesare und den Platz an der Spitze seines Clans. Sie waren gemeinsam so glücklich gewesen, wie es die Umstände zuließen. Jetzt aber wurde er von Stunde zu Stunde sturer. Fühlte er sich in seinem Stolz verletzt? Traten all die Rachegefühle, die er gerade erst bezwungen hatte, erneut ans Licht?
Sie waren beide von ihren Familien gedemütigt worden, nur machte es ihr nicht viel aus – nicht nach allem, was sie vorher erlebt hatte. Er jedoch kämpfte mit sich selbst und den Umständen, und das raubte ihm sein Lächeln und das Leuchten seiner Augen. Seine Miene war so düster geworden wie seine Stimmung und die Schwärze vor dem Fenster hatte Einzug in sein Herz gehalten.
Geistesabwesend blickte sie zu ihren Spiegelbildern in der Scheibe und dachte, wie viel einfacher es doch gewesen wäre, wenn diese beiden sich darüber hätten unterhalten können. Sollten sie sich mit den Fragen und Erklärungen, mit all dem unvermeidlichen Gestammel herumschlagen.
»Und?«, fragte er plötzlich.
In ihren Händen hielt sie die zerfledderten Seiten aus Moris Buch. Kurz nach ihrer Abfahrt hatte sie begonnen, das Kapitel zu lesen, und war erst vorhin damit fertig geworden.
»Er hat eine Menge über die Dynastien herausgefunden«, sagte sie. »Vieles ist oberflächlich, aber im Großen und Ganzen hat er das aufgeschrieben, was eigentlich außer den Arkadiern niemand wissen sollte. Kein Wunder, dass Cesare und dein Vater Alarm geschlagen haben.«
»Was schreibt er denn?« Alessandro streckte sich und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.
Sie blätterte. »Erst einmal hat er die bekannten Mythen zusammengefasst. Dass Arkadien ein Inselreich war, irgendwann in der
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