Arminius
waren. Was war so falsch daran, sich unter ihren Schutzmantel zu begeben? Lumpen gab es genauso bei den Germanen wie bei den Römern. Segestes war nicht besser als Lucius Marcus Lupus!
Arminius betrachtete den Birkenhain. Das Weiß der Stämme, die lindgrünen Blätter, die im leisesten Windhauch raschelten, entführten ihn aus der Gegenwart in ein Niemalswann und Nirgendwo. Wie sollte er sich entscheiden? Sollte er wie Marbod werden? Germanicus war immer wie ein Bruder zu ihm gewesen. Sollte er ihn dafür jetzt verraten? Oder sollte er seine Eltern im Stich lassen, Nehalenia und Elda, auch Elda?
Wozu er sich auch durchringen würde, es bedeutete immer Verrat. Aber Nehalenia hatte recht. Von einem bestimmten Standpunkt aus spielte das keine Rolle mehr. Es kam nur drauf an, sich selbst nicht untreu zu werden, sich selbst nicht zu verraten. Aber wer war er denn? Ein Römer? Schließlich besaß er das Bürgerrecht und die Ritterwürde, vom Kaiser selbst verliehen. Und König konnte er auch, wenn er es geschickt anstellte, unter den Römern werden, einer von vielen abhängigen Fürsten des Imperiums. Oder vielleicht doch Germane?
Andererseits handelte es sich nicht um ihn. Es ging um alle. Um seinen Vater. Um Heban. Er sah die germanischen Gesichter im Lager von Aliso wieder vor sich. Und erinnerte sich an die Nacht, als er den Senator in dem Bordell in der suburbia erstochen hatte, weil er ein Kind, weil er Germanicus vergewaltigen und ermorden wollte. Sollten die Germanen diese Kultur erlernen? Wollte er die römische Kultur vom Tiber an die Albis bringen? Sollten die Germanen etwa nicht dazu in der Lage sein, ihre eigene Kultur zu entwickeln? Ihr eigenes Leben? Einen Versuch war es immerhin wert. Bestand darin nicht das Vermächtnis seines Vaters? Weshalb sollten sie einen Herrn erdulden, nur weil der ihnen immer ein Stückchen Brot zuwarf, ihr Brot, das er ihnen im Grunde nur großmütig gelassen hatte? Warum sollten die Germanen nicht ihre Könige selbst wählen sollen und ihre Städte bauen, wohlgemerkt ihre Könige und ihre Städte? Im Einklang mit ihren Ahnen neue Ufer betreten?
Plötzlich dachte Arminius an Marbod und musste lächeln. Trat man etwas zurück und betrachtete den Markomannenherrscher aus einer etwas entfernteren Perspektive, erblickte man ein Männchen in einem viel zu großen Gewand. Was tat der denn anderes, als die Römer nachzuahmen, in einer lächerlichen Schmierenkomödie einen markomannischen Zwergen-Augustus zu geben?
Man konnte die Römer mit ihren eigenen Waffen schlagen. Was aber nicht gelingen würde, wäre, ein drittes oder viertes Rom zu errichten. Sieg oder Niederlage, durchfuhr es ihn plötzlich siedend heiß, verstellten auf ihre jeweils eigene Art den Weg zurück. Germanien würde sich auf jeden Fall verändern. Aber wohin? Wenn sie verlören, wäre es einfach, dann würde eintreffen, was ohnehin geschehen sollte. Germanien würde als Provinz den Reichtum Roms mehren helfen. Gesetzt den Fall jedoch, sie würden die Römer schlagen, was täten sie dann am zweiten Tag? Wieder in ihre Hütten zurückkriechen? Soviel ein Sieg auch bedeuten würde, wäre mit ihm vermutlich noch gar nichts getan.
Die Frage beunruhigte Arminius, und er rannte zu den anderen zurück. Sie saßen bereits beim Essen. Als er sich niederließ, keuchte er atemlos: »Kämpfen wir, um wieder wie unsere Vorväter zu leben?«
»Schon unsere Väter lebten nicht mehr wie unsere Vorväter«, antwortete Nehalenia. »Wer das behauptet, lügt. Aber es ist nicht weniger gelogen zu sagen, dass wir nur im Bündnis mit den Römern überleben, dass wir uns anpassen, ihre Kultur übernehmen müssen. Wir müssen das Eigene finden, nur wenn wir etwas Eigenes haben, überleben wir. Gäbe es sonst die drei Nornen Scult, Werdandi und Wurt, Gestern, Heute, Morgen, Gewesenes, Seiendes, Werdendes? Ohne das Vergangene wären wir heute nicht. Ohne heute zu sein, gibt es uns morgen nicht, und das Morgen ist das Kind, das wir heute zeugen. Wir müssen alle drei Nornen gleichermaßen lieben und achten. Wir sind keine Römer und werden keine Römer und sollten keine Römer werden wollen. Aber wir sollten genauso wenig den Dreck, in dem wir hausen, zu einer germanischen Tugend verklären.«
Nehalenia reichte ihm eine Holzschale mit Suppe. »Ich sehe dir an, dass dir meine Antwort nicht genügt.«
»Auf anderem Weg war ich auch schon so weit gekommen wie du«, gab Arminius zu.
Die weise Frau lächelte gütig. »Und nun willst du
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