Artefakt
Informationsschriften auf ihn zu. Die Aufschrift lautete:
NUKLEARMEDIZIN = NUKLEARENERGIE = NUKLEARKRIEG
Sie sagte: »Bitte, lesen Sie! Schließen Sie sich uns an!«
»Ist das Ihre unheilige Familie?« erwiderte er und ging weiter.
Einige Wochen zuvor hatte er die Examensarbeit eines Studenten über die Geschichte der Wissenschaft in diesem Jahrhundert gelesen und manches daran überraschend gefunden. In den 20er und 30er Jahren hatte man Radioaktivität vielfach als Heilmittel betrachtet. Radium wurde zum Schlagwort geschäftstüchtiger Unternehmer. Radium konnte nicht nur Krebspatienten heilen, sondern wurde – in geringen Dosen – sogar als ein gesundes Anregungsmittel angepriesen. Kurorte warben stolz mit der natürlichen Radioaktivität ihrer Quellen, und manche legten sich gar den Namen »Radiumbad« zu. Man konnte Radium in Form von Kapseln, Tabletten, Kompressen, Badesalzen, Einreibungen, Inhalationen, Injektionen oder Zäpfchen zu sich nehmen. Man konnte radiumhaltige Pralinen essen und sich anschließend die Zähne mit radiumhaltiger Zahnpasta putzen. Die Hersteller behaupteten, daß ihre zweifelhaften Elixiere gegen Tuberkulose, Rachitis, Tumore, Kahlköpfigkeit und nachlassende Manneskraft helfen würden.
Inzwischen hatte die Menschheit schmerzhaft dazulernen müssen, und das Pendel schlug weit nach der anderen Seite aus. Die Furcht vor monströsen staatlichen Atomprogrammen einte Maschinenstürmer und Pazifisten, Umweltschützer und Landwirte, ängstliche Liberale und Anarchisten im Kampf gegen die teuflischen Windmühlen der Staatsgewalt. John schüttelte den Kopf. Es war in einer Weise traurig, weil die wahren Torheiten des Zeitalters anderswo lagen. Für ihn war es Wahnsinn, kostbares Erdöl in Motoren und Heizanlagen zu verbrennen; er verglich es mit der Herstellung von Kleiderbügeln aus Platin. Das sichtbare Schrumpfen der Ölvorräte machte zusehends deutlich, daß Erdöl als Grundstoff für zahlreiche Produkte und als Schmiermittel bei hohen Temperaturen nutzbringender verwendet werden konnte, zumal es an guten Ersatzstoffen mangelte. Aber das führte auf eine andere Ebene. Er seufzte, als er sich vorzustellen versuchte, was diese Leute sagen würden, wenn sie von der Singularität erführen.
Auf dem Weg zu Abes Labor lief er einem zweiten Kamerateam in die Arme. Es wartete ungeduldig draußen, und ein Mann in einer Lederjacke schlug gegen die Stahltür. Sie sahen ihn kommen und wandten sich ihm zu, um Fragen zu stellen, aber John hatte seinen Schlüssel für die Seitentür schon in der Hand und schlüpfte hinein, ehe sie ihn erreichten.
Der erste, auf den er drinnen stieß, war Donald Hampton. »Ich möchte Ihnen sagen, wie schockiert ich über all dieses Aufhebens bin.«
»Haben Sie diese Fernsehleute hergebracht?« konterte John.
»Wo denken Sie hin? Aber nach Miß Andersons Anruf mußte ich den Präsidenten unserer Universität verständigen, und ich vermute, daß er…«
»Großartig. Wissen die Fernsehleute etwas über die physikalischen Aspekte?«
»Ich kann nur sagen, was ich unserem Präsidenten mitteilte. Ich mußte ihm natürlich erläutern, warum das Artefakt nicht sofort zurückgegeben wurde, und in dem Zusammenhang wiederholte ich einiges von dem, was Prof. Sprangle gesagt hatte.«
»Noch besser.«
Claire war mit Abe im Gespräch. John forderte Hampton auf, hinauszugehen und die Fernsehleute mit Informationen über Archäologie und den bedauerlichen Diebstahl abzuspeisen, da es durch die Sorglosigkeit seines Präsidenten hergelockt worden sei. Die anderen waren um den leeren Fleck versammelt, wo Abes Meßgeräte in einem Kreis auf einen Gegenstand warteten, der nicht da war.
Als er zu ihr kam, sagte Claire: »Ah, du bist ihn losgeworden. Erspart mir die Mühe, ihm die Augen auszukratzen.«
»Okay, ja, aber du solltest deine Lage nicht noch verschlimmern. Selbst wenn er einen Irrtum begangen haben…«
»Ausgeschlossen. Irren ist menschlich.«
»Vor allem müssen wir versuchen, den Deckel auf dem Topf zu halten und die allmächtigen Medien nicht zu alarmieren.«
Claire fragte: »Was macht dein Unterkiefer? Er sieht furchtbar aus.«
John befühlte ihn vorsichtig. »Ist über Nacht steif geworden«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, um die Bewegung zu verringern. »Das nächste zu einem Harvard-Akzent, was ich je erreichen werde.«
Claire lächelte zärtlich. Abe hob die weißen Brauen, unwillig über die Unterbrechung, und fuhr fort: »Auf keinen
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