Arto Ratamo 7: Der Finne
an der Reihe?
Auf dem Gipfel des Rapolanharju, siebzig Meter über dem Meeresspiegel, mussten sie stehen bleiben, um zu verschnaufen. Der Marsch durch die Einöde von Jäniskoski bis zur Grenze steckte ihnen immer noch in den Knochen. Ratamo hatte im Auto die Karte studiert und erinnerte sich, dass man bei Tageslicht von hier aus die Landschaft des Rauttunselkä bewundern konnte, doch jetzt sah er nur Schwarz in verschiedenen Tönen. Die in der Ferne funkelnden Lichter der Häuser und Sommerhütten deuteten aber immerhin die Uferlinie des Sees an. Die Luft schmeckte frisch.
»Hier befindet sich der Mittelpunkt des Gebietes mit frühgeschichtlichen Relikten – die Burg von Rapola. Der Haufen mit den Wurfsteinen liegt, soweit ich mich erinnere, in dieser Richtung«, verkündete Sutela laut und wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. Er erinnerte sich nur zu gut an den heißen Tag vor dreißig Jahren, an dem sein Vater ihm einen ganzen Zehner für das Zeichnen einer Karte des Burgberggeländes gezahlt hatte. Fast alle angenehmen Erinnerungen an seine Kindheit hingen in der einen oder anderen Weise mit ihren Ausflügen zu historischen Orten zusammen, an denen sein Vater wie verwandelt war; statt mürrisch herumzukommandieren, glich er da einem enthusiastischen Reiseführer.
Sutela hetzte mal hierhin, mal dahin, stolperte, fluchte und suchte weiter. Nach mehreren vergeblichen Anläufen und Kurskorrekturen blieb er stehen, pfiff schrill und wartete, bis Ratamo und Otsamo bei ihm standen.
»Das ist es.« Ganz außer Atem holte er eine kleine Taschenlampe heraus und führte ihren Lichtkegel langsam über einen Steinhaufen von wenigen Quadratmetern, auf dem volleyballgroße Brocken lagen. »Hier hat mein Vater die Unterlagen damals unter den Steinen begraben. Ich habe bestimmt anderthalb Stunden an dieser Stelle gestanden.«
Er ging von Stein zu Stein, versuchte ein paar kleinere wegzurücken, murmelte etwas, das die anderen nicht verstanden, und fing wieder von vorn an. Allmählich beschlich ihn die Angst, dass seine Erinnerung trog, und es konnte ja jemand die Steine verschoben haben … Sein Herz setzte einen Schlag aus, als ihm etwas ins Auge fiel: Mitten zwischen unförmigen, kantigen und runden Felsbrocken ruhte eine gerade Felsplatte auf ihrer breiten Seite. Die hatte sein Vater als Zeichen auf dem Versteck liegen lassen, jemand musste sie verschoben haben. Waren die Unterlagennoch da? Er steckte die Taschenlampe in den Ärmel, trat vor den Stein und packte ihn mit beiden Händen. Erst als Ratamo zu Hilfe kam, ließ er sich mit Mühe anheben und fiel mit einem dumpfen Knall zur Seite.
Sutela tastete in der nun freigelegten Vertiefung umher, spürte eine glatte Fläche und zog ein luft- und wasserdichtes Plastikbehältnis heraus. Er öffnete die Verschlüsse, nahm das Dokument heraus und hielt es hoch wie einen Siegerpokal.
Als Sutela aufstand, gingen taghelle Lichter an. Er war geblendet und drehte den Kopf hin und her, aber die grellen Scheinwerfer leuchteten aus allen Richtungen. Dunkle Gestalten tauchten auf, eine von ihnen kam auf ihn zu …
»Versteck es und renn ins Dunkle!«, rief Ratamo, die Augen mit der Hand schützend. Als er auf die nächstgelegene Lampe zuging, traf ihn plötzlich ein harter Schlag in den Magen. Er fiel auf die Knie und schnappte nach Luft. Taru Otsamo schrie irgendwo in der Nähe auf, sie brüllte und fluchte, es hörte sich an, als würde sie jemand mit Gewalt festhalten.
Die Angst lähmte Sutela. Wie zum Teufel hatten die sie gefunden? Das Dokument würde er nicht hergeben. In dem Augenblick griff jemand nach der Mappe, er riss sie dem Angreifer aus der Hand und rannte los, mit ausgestreckten Armen. Sosehr er sich auch bemühte, etwas zu erkennen, er sah überall nur schwarze Punkte. Diese verdammten Scheinwerfer. Er trat auf einen glatten Stein, verstauchte sich den ohnehin schon schmerzenden Knöchel, fiel hin und verlor seine Brille. Die Verfolger waren nur ein paar Meter entfernt. Er musste fliehen! Sein Herz hämmerte, und vor Schmerz sah er Sterne. Er raffte sich auf, fand seine Brille, setzte sie auf und stürmte humpelnd los. Jetzt sah er schon die Umrisse der Bäume. Er ruderte mit den Armen, um schneller zu laufen, die Schritte der Angreifer entferntensich, urplötzlich trat er mit einem Fuß ins Leere und dann auch mit dem anderen. Er spürte, wie er fiel, und registrierte erschrocken das Gefühl der Schwerelosigkeit.
Ein schneidender Schmerz
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