Arto Ratamo 7: Der Finne
stellte sie sich vor, was Paula empfunden haben musste, als das Wasser sie mitriss: Sie hatte gestrampelt und mit den Armen gerudert, aber es half alles nichts, sie schluckte Wasser und bekam keine Luft mehr und rief nach ihrer Mutter …
Taru weinte, es klang wie ein stiller Schrei, aber ihre Augen wurden nicht feucht. Sie weigerte sich, zu glauben, dass ihre Tochter ertrunken war. Sie durfte es nicht glauben. Doch sie sah Paula vor sich in ihrem roten Sommerkleid am Ufer des Ivalojoki. Sie musste aufstehen, weil sie keine Luft bekam. Mühsam drehte sie sich auf die Knie und stemmte sich dann hoch. Als sie stand, klingelte das Telefon wieder.Erneut ihr Vater, aber sie war einfach nicht imstande, sich zu melden.
Das T-Shirt fiel im Bad zu Boden, Taru trat in die Duschkabine und drehte das kalte Wasser auf, dann das heiße und wieder das kalte. Es gab auf der ganzen Welt bestimmt keinen größeren Pechvogel als sie, seit der Teenagerzeit ging immer alles schief. Während der schriftlichen Abiturprüfungen war sie krank geworden, den Studienplatz an der naturwissenschaftlichen Fakultät in Oulu hatte sie dreimal um einen Punkt verpasst, die besten Jahre ihrer Jugend waren für irgendwelche Feten draufgegangen und für ein Studium in Helsinki, das sie eigentlich nicht interessierte, und dann hatte sie sich auch noch in Leo verknallt. Das war von allen Fehlern der schlimmste gewesen, der Mann hatte seinen Entschluss wegzugehen auch dann nicht zurückgenommen, als er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Und nun war er für sie unerreichbar. Sie hatte immer noch Sehnsucht nach ihm, trotz alledem. Es war ihr unangenehm, dass sie das Eerik nicht erzählen konnte.
Taru packte die Wut: Ihr Kind war verschwunden, und sie stand nur herum und bemitleidete sich. Paula würde natürlich gefunden werden, das Mädchen war nicht ertrunken. Etwas anderes kam für sie nicht in Frage, sie würde nach Hause fliegen und Paula ausfindig machen, mit allen Mitteln.
Rasch drehte sie den Wasserhahn zu und trocknete sich ab, es war keine Minute zu verlieren. Wann flog die nächste Maschine nach Ivalo? Sie griff nach der Klinke der Badtür und wollte sie nach unten drücken – doch sie rührte sich nicht. Taru nahm beide Hände und spürte, wie die Klinke ein wenig nachgab, jemand hielt auf der anderen Seite die Tür zu. Die Angst kehrte zurück, sie wusste nicht, ob sie die Tür öffnen oder lieber zuhalten wollte, um den Eindringling nicht hereinzulassen. Urplötzlich schoss ihr ein Gedankedurch den Kopf, der ihr Herz noch wilder rasen ließ: Und wenn das mit Jäniskoski, mit dem Burgberg von Rapola zusammenhing und …
»Ihre Tochter lebt, wir haben nur vorgetäuscht, dass sie ertrunken ist«, sagte ein Mann mit dunkler Stimme auf Englisch hinter der Tür.
Taru Otsamo sackte zu Boden, eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Nur das wollte sie wissen, alles andere war bedeutungslos. Paula lebte.
»Ich lege ein Telefon auf Ihr Bett, nehmen Sie es immer mit, meine Nummer ist in seinem Speicher. Rufen Sie mich ab und zu an, immer, wenn Sie von Eerik Sutela etwas Neues über das ›Schwert des Marschalls‹ erfahren, und natürlich stets dann, wenn Sie einen neuen Brief finden. Sagen Sie weder der Polizei noch irgendjemand anderem etwas von unserem Gespräch, falls Sie Ihre Tochter lebend wiedersehen wollen. Und versuchen Sie nicht, mich zu täuschen. Wir verfolgen jede Ihrer Bewegungen mit Hilfe der Telefonortung und überprüfen alles, was Sie uns berichten. Sollten wir kein Signal des Telefons mehr empfangen, stirbt Ihre Tochter. Sie müssen herausfinden, was Sutela über das ›Schwert des Marschalls‹ weiß, und uns diese Informationen übermitteln. Das ist einfach und leichtverständlich, nicht wahr?«
Taru brauchte nicht lange zu überlegen. Natürlich würde sie darauf eingehen. Paula war für sie das Wichtigste auf der Welt. »Ich bin zu allem bereit, wenn Sie Paula jetzt sofort freilassen. Wo ist Paula?«
»Das ist nun leider überhaupt nicht möglich, solche Dinge laufen nicht in dieser Reihenfolge ab. Sie erhalten Ihre Tochter dann zurück, wenn wir zu dem Schluss kommen, dass Sie Ihre Aufgabe erfüllt haben.«
Womit könnte sie den Mann unter Druck setzen? Taru versuchte einen Weg zu finden, wie sie Paula sofort zurückbekäme.Das Mädchen würde lebenslang unter einem Trauma leiden, falls es mehrere Tage als Gefangene von irgendwelchen Kriminellen verbringen müsste. Und wenn die Männer Paula etwas antaten?
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