Arto Ratamo 7: Der Finne
Daran durfte sie nicht einmal denken. »Ich will meine Tochter zurück, jetzt sofort!« Ihre Stimme stieg ins Falsett.
Es kam keine Antwort. Die Sekunden vergingen, und Taru erhob sich. Die Hoffnung erwachte, anscheinend dachte der Mann über ihre Forderung nach. Taru griff nach der Klinke, sie ließ sich nach unten drücken. Die Tür flog auf, und Taru überprüfte mit klopfendem Herzen jeden Winkel ihres Zimmers. Es war niemand da. Sie öffnete die Tür zum Flur und trat hinaus, eine Frau im Trainingsanzug starrte sie an, als hätte sie ein Heinzelmännchen erblickt. In dem Augenblick wurde Taru klar, dass sie nackt auf dem Gang stand, sie zog die Tür zu und sank auf ihr Bett.
Die Angst ließ ein wenig nach, als ihr die Worte des Mannes einfielen:
»… Sie erhalten Ihre Tochter zurück …«
Doch dann kehrte sie zurück und zwar größer als je zuvor. Wenn nun die Behauptungen in dem Brief aus der Teufelskirche von Jäniskoski stimmten? Um solche Geheimnisse zu verbergen, waren Staaten zu allem bereit. Auch zum Schlimmsten.
Draußen schien die Sonne. Ein kleiner Vogel in einem graugestreiften Federkleid flog auf das Vogelhäuschen, das im Hinterhof des Ferienhauses an einem Ast hing, und pickte Samen auf. Am Kopf hatte er einen grellroten Fleck. Genau wie eine Mütze, dachte Paula. Sie musste immer noch weinen, aber Tränen kamen keine mehr. Wie lange war sie denn jetzt schon hier? Zu lange, das zumindest war sicher.
Sie hatte keine Lust, ins Wohnzimmer zu gehen. Dort unterhielten sich der Große Kerl und die Kleine Frau, und sie verstand nicht, was die sagten. Die beiden sahen immernur fern, aßen und tranken und schnauzten sie an, wenn sie etwas fragte. Der Große Kerl sprach nicht einmal Finnisch. Sie verstand nicht, warum sie hier aufgewacht war, in einem fremden Haus, bei fremden Leuten, und nicht bei Opa und Oma. Und wo war ihre Mutter? Hatte sie irgendetwas Böses getan?
21
Tampere, Donnerstag, 10. August
Arto Ratamo lag mit geschlossenen Augen auf seinem Hotelbett und lauschte der nur allzu vertrauten Stimme Riitta Kuurmas, und zwar seit zwei Jahren zum ersten Mal nackt.
»… und obendrein sieht es so aus, als würde Sutela sich ab und zu mit seinem Schwiegervater treffen«, sagte Riitta am Telefon ihres Zimmers im Hauptquartier der Sicherheitspolizei.
»Ein Fachmann auf dem Gebiet der forensischen Archäologie und ein Abteilungsleiter des britischen Auslandsnachrichtendienstes. Das ist nicht gerade ein normales Gespann«, erwiderte Ratamo nachdenklich. »Aber auch die Information reicht nicht aus, um in dieser Sache zu ermitteln. Zum Glück. Und da auch der gestrige Brief vom Burgberg von Rapola gestohlen wurde, werde ich das Handtuch werfen und wieder Urlaub machen. Ich habe jetzt langsam genug Ausflüge in den Wald unternommen.«
»Gehen wir heute Abend auf ein Bier ins Karussell?«, fragte Riitta.
Ratamo versprach, darüber nachzudenken, schaltete sein Telefon aus und fing an, sich Sorgen zu machen. Er und Riitta kamen derzeit wieder sehr gut miteinander zurecht, vielleicht zu gut. Fühlte er sich immer noch zu Riitta hingezogen, oder versuchte er sich nur unbewusst an Ilona dafür zu rächen, dass sie den ganzen Sommer nach Italien entschwunden war? Er brauchte Zeit, um seine Gedanken in Ordnung zu bringen, und sich selbst auch. Und mit Nelli musste er sowieso reden.
Er beschloss, diese Sorgen zu verschieben, holte die Blutdrucktabletten aus der Tasche und fragte sich, warum das dumpfe Gefühl im Kopf noch stärker war als sonst nach Nächten, in denen er mit Hilfe von Tabletten geschlafen hatte. Es war höchste Zeit, in den Urlaub zurückzukehren, die letzten Tage waren noch stressiger gewesen als der Alltag bei der SUPO.
Das schmale, ernste Gesicht des russischen Präsidenten Wadim Bukin tauchte auf dem Bildschirm auf, als Ratamo den Fernseher einschaltete. Der Moderator des Nachrichtenmagazins erklärte, wie Präsident Bukin Russland wieder zu einem starken, zentral geleiteten Staat machte – zu einer Energiesupermacht. Überrascht hörte Ratamo, dass sich fast dreißig Prozent der Weltenergiereserven auf russischem Boden befanden. Er wechselte den Kanal, erfuhr, dass die Vogelgrippe in Rumänien neue Opfer unter Menschen gefordert hatte, und schaltete das Gerät aus, das nichts als bedrückende Nachrichten überbrachte.
Er holte sich aus dem Badezimmer ein Glas Wasser und warf einen Blick auf die Uhr; erst in einer halben Stunde würden sie sich beim Frühstück treffen. Seine
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