Artus-Chroniken 2. Der Schattenfürst
Tanaburs, der Druide, den ich im Lugg Vale getötet hatte, hatte sie aufgesucht, um sie mit einem schrecklichen Zauberbann zu belegen, und eine sächsische Sklavin, die von dem Druiden derart verflucht worden war, mußte überall gut bekannt sein. Das traf zu. Ich fand sie am Meer in einem winzigen Dorf, wo die Frauen Salz siedeten und die Männer Fische fingen. Die Dorfbewohner schraken vor den unvertrauten Schilden meiner Männer zurück, aber ich betrat eine der armseligen Hütten, wo mir ein Kind mit ängstlichem Blick den Weg zum Haus der Sächsin wies: eine Hütte, die hoch über dem Strand auf einer zerklüfteten Klippe stand. Es war nicht einmal eine Hütte, sondern eher ein primitiver Unterschlupf aus Treibholz, gedeckt mit ausgefranstem Reet aus Seetang und Stroh. Auf dem kleinen Platz vor dem Unterschlupf brannte ein Feuer, in dessen Qualm etwa ein Dutzend Fische vor sich hin räucherten. Noch dickerer Rauch stieg von den Kohlefeuern am Fuß der Klippe auf, auf denen in großen Pfannen das Salz siedete. Ich ließ Speer und Schild am Fuß der Klippe zurück und erklomm den steilen Pfad. Eine Katze zeigte mir die Zähne und fauchte mich an, als ich mich bückte, um in die dunkle Hütte hineinzuspähen. »Erce?« rief ich. »Erce?«
Irgend etwas bewegte sich schwerfällig in den Schatten. Es war eine unförmige, dunkle Gestalt, die sich aus vielen Schichten Fellen und Lumpen schälte, um zu mir
herüberzustarren. »Erce?« fragte ich. »Seid Ihr Erce?«
Was hatte ich an jenem Tag erwartet? Ich hatte meine Mutter seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen, seit jenem Tag, da ich von Gundleus’ Speerkämpfern aus ihren Armen gerissen und Tanaburs als Opfer für die Todesgrube übergeben worden war. Erce hatte geschrien, als ich ihr fortgenommen wurde, und dann hatte man sie in eine neue Sklaverei nach Siluria entführt. Sie muß geglaubt haben, ich sei tot, bis Tanaburs ihr endlich verriet, daß ich noch am Leben war. In meinen unruhigen Gedanken hatte ich mir, während ich durch Silurias tiefe Täler südwärts marschierte, eine Umarmung, Tränen, Verzeihung und Glück vorgestellt.
Statt dessen kam eine unförmige Frau, das einstmals blonde Haar zu schmutzigem Grau verfärbt, aus dem Durcheinander von Fellen und Decken hervorgekrochen, um mich
argwöhnisch zu beäugen. Sie war unglaublich fett, ein riesiger Fleischberg. Ihr Gesicht, so rund wie ein Schild, war von Krankheiten und Narben entstellt, und ihre Augen waren klein, hart und blutunterlaufen. »Früher nannte man mich Erce«, antwortete sie mit heiserer Stimme.
Abgestoßen von dem Gestank nach Urin und Fäulnis, zog ich mich aus der Hütte zurück. Sie folgte mir, schwerfällig auf allen vieren kriechend, und spähte blinzelnd in die Morgensonne hinaus. Sie war in Lumpen gekleidet. »Seid Ihr Erce?« fragte ich sie abermals.
»Früher einmal«, antwortete sie und zeigte mir gähnend eine zerstörte, zahnlose Mundhöhle. »Vor langer Zeit. Jetzt nennt man mich Enna.« Sie hielt inne. »Die verrückte Enna«, ergänzte sie traurig. Dann musterte sie meine feinen Kleider, den kostbaren Schwertgurt und die hohen Stiefel. »Wer seid Ihr, Lord?«
»Mein Name ist Derfel Cadarn«, sagte ich. »Ich bin ein Lord aus Dumnonia.« Der Name schien ihr nichts zu bedeuten. »Ich bin Euer Sohn«, setzte ich hinzu.
Sie zeigte keine Reaktion auf meine Worte, sondern ließ sich an der Treibholzwand ihrer Hütte zu Boden sinken, die unter ihrem Gewicht gefährlich ins Wanken geriet. Sie schob eine Hand tief in ihre Lumpen und kratzte sich an der Brust. »Meine Söhne sind alle tot«, sagte sie.
»Mich hat Tanaburs genommen«, erinnerte ich sie, »und in die Todesgrube geworfen.«
Die Geschichte schien ihr nichts zu sagen. Sie lag zusammengesunken an der Wand; ihr riesiger Körper hob und senkte sich bei jedem mühsamen Atemzug. Sie spielte mit der Katze und starrte über das Severn-Meer hinweg bis dorthin, wo in der Ferne Dumnonias Küste lag – ein dunkler Streifen unter einer Front von Regenwolken. »Ich hatte einmal einen Sohn«, sagte sie schließlich, »der den Göttern in der Todesgrube geopfert wurde. Wygga hieß er. Wygga. Ein schöner Junge.«
Wygga? Wygga! Dieser Name, so primitiv und häßlich, ließ
mich ein paar Herzschläge lang verstummen. »Ich bin Wygga«, sagte ich schließlich, obwohl ich den Namen haßte. »Nachdem ich aus der Grube gerettet wurde, gab man mir einen anderen Namen«, erklärte ich ihr. Wir sprachen Sächsisch, eine
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