Artus-Chroniken 2. Der Schattenfürst
ihres Bruders entführt hatte. Welch ein ungewöhnlicher Lebenslauf, dachte ich, und wie traurig, daß mein Lebensfaden hier, auf Britanniens heiliger Insel, so unvermittelt abgeschnitten werden sollte!
»Es steht wohl zu vermuten«, hörte ich Merlins Stimme,
»daß es hier keinen Käse gibt?«
Ich starrte ihn an und glaubte zu träumen.
»Ich meine den weißen, Derfel«, fuhr er eifrig fort, »der immer so krümelt. Nicht den harten dunkelgelben. Den harten dunkelgelben Käse kann ich nicht ausstehen.«
Er stand in der Grube und spähte mit tiefernster Miene zu mir herüber. Der Mantel, der seinen Körper bedeckt hatte, lag nun wie ein Umhang um seine Schultern.
»Lord?« sagte ich mit ganz winziger Stimme.
»Käse, Derfel! Hast du mich nicht verstanden? Ich habe Hunger auf Käse! Ich bin sicher, daß wir Käse hatten. Er war in Leinen eingepackt. Und wo ist mein Stab? Man legt sich hin, um ein bißchen zu schlafen, und sofort wird einem der Stab gestohlen! Gibt es keine ehrlichen Menschen mehr? Wir leben in einer schrecklichen Welt. Kein Käse, keine Ehrlichkeit und kein Stab.«
»Lord!«
»Hör auf, so laut zu schreien, Derfel! Ich bin nicht taub. Ich bin nur hungrig!«
»O Lord!«
»Jetzt plärrst du auch noch! Ich hasse es, wenn jemand greint. Ich will nichts weiter als ein Stück Käse, und du fängst an zu weinen wie ein Kind! Ah, da ist ja mein Stab. Gut.« Er holte ihn sich von Nimues Seite und benutzte ihn, um aus der Grube zu steigen. Inzwischen waren die anderen Speerkämpfer erwacht und starrten ihn offenen Mundes an. Dann regte sich Nimue, und ich hörte, wie Ceinwyn nach Luft schnappte. »Wie ich vermute, Derfel«, sagte Merlin, der in dem Berg von Bündeln zu wühlen begann, um zu seinem Käse zu gelangen,
»hast du uns in diese peinliche Lage gebracht, wie? Vom Feind umzingelt, oder?«
»Ja, Lord.«
»Von einem übermächtigen Feind?«
»Ja, Lord.«
»Du liebe Zeit, Derfel, du liebe Zeit! Und du willst Krieger befehligen? Käse! Ha, hier ist er! Ich wußte doch, daß wir Käse haben. Hmm, köstlich!«
Mit bebendem Finger zeigte ich auf die Grube. »Der Kessel, Lord.« Ich wollte unbedingt wissen, ob der Kessel dieses Wunder vollbracht hatte, war aber noch zu überwältigt von Staunen und Erleichterung, um etwas Zusammenhängendes von mir zu geben.
»Ein überaus hübscher Kessel, was, Derfel? Hat alles, was man sich von einem Kessel erwartet.« Er biß in ein dickes Stück Käse. »Ich sterbe vor Hunger!« Er biß abermals ab, machte es sich bei den Felsen bequem und strahlte uns alle an.
»Von einem übermächtigen Feind umzingelt! Was sagt man dazu! Und was nun?« Er stopfte sich den Rest des Käses in den Mund und wischte sich mit den Händen die Krumen ab. Er schenkte Ceinwyn ein ganz spezielles Lächeln und streckte den langen, dürren Arm nach Nimue aus. »Alles in Ordnung?«
fragte er sie.
»Alles in Ordnung«, antwortete sie gelassen, während sie sich in seine Arme schmiegte. Sie allein schien weder von seiner Auferstehung noch von seiner offensichtlichen Gesundheit beeindruckt zu sein.
»Bis auf die Tatsache, daß wir von einem mächtigen Feind umzingelt sind«, sagte er spöttisch. »Was machen wir nun?
Das beste in einem solchen Notfall ist es gewöhnlich, jemanden zu opfern.« Erwartungsvoll musterte er die fassungslosen Männer um sich herum. Sein Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, und seine altgewohnte boshafte Energie war offenbar in voller Kraft zurückgekehrt. »Derfel, vielleicht?«
»Lord!« protestierte Ceinwyn.
»O Lady! Nicht Ihr! Nein, nein, nein, nein, nein! Ihr habt schon genug getan.«
»Bitte kein Opfer, Lord«, flehte Ceinwyn.
Merlin lächelte. Nimue schien in seinem Arm eingeschlafen zu sein, für uns andere gab es in dieser Nacht keinen Schlaf mehr. Als plötzlich ein Speer weiter unten klappernd auf die Steine fiel, reichte Merlin mir seinen Stab. »Du kletterst jetzt ganz oben hinauf, Derfel, und hältst meinen Stab genau nach Westen. Nach Westen, merk dir das, und nicht nach Osten!
Nimm dich zusammen und versuche, endlich mal etwas richtig zu machen, hörst du? Gewiß, wenn man will, daß etwas richtig gemacht wird, sollte man es selber tun, aber ich möchte Nimue nicht wecken. Also los, ab mit dir!«
Ich nahm den Stab, kletterte auf die Felsen und stellte mich auf den höchsten Punkt des Hügels. Von da aus richtete ich den Stab dann, Merlins Anweisungen folgend, aufs ferne Meer.
»Nicht stoßen!« rief Merlin zu mir herauf. »Nur
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