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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ständig an meiner Seite, von morgens bis abends, und ich hab sie dafür abwechselnd gehasst und geliebt und mir dann wieder gewünscht, sie möge sich in Luft auflösen.«
    »War sie auch so ein Ding wie Guignol?«
    »Jedenfalls kein Mensch. Aber was sie wirklich war … ich hab keine Ahnung. Immer wenn ich Fragen gestellt habe, ist mein Vater mir ausgewichen oder hat sich irgendwelchen Unfug einfallen lassen. Das war leicht, als ich noch klein war, aber später hatten wir oft Streit deswegen. Und Chimena stand dabei, ohne ein Wort zu sagen.«
    »Hast du sie selbst nie gefragt?«
    »Tausend Mal. Aber sie hat mir keine Antwort gegeben. Sie konnte nicht über sich sprechen. Ich meine, buchstäblich, als hätte es da in ihr eine Art Sperre gegeben. Wie die Sicherungsbolzen der Droiden in Star Wars .«
    Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Jungs.
    Über Parkers Züge flackerte ein Lächeln, aber er wurde gleich wieder ernst. »Die wichtigsten Fragen hätte sie mir ohnehin nicht beantworten können.« Er schwieg für einen Moment, als müsste er seine Worte abwägen. »Welchen Preis hat Libatique verlangt? Und, in Anbetracht der letzten Nacht, warum weigert sich mein Vater, ihn zu bezahlen?«

22.
    Er hat viele Namen getragen, zu vielen Zeiten. Libatique ist nur einer davon, der letzte einer langen Reihe.
    Im Schein der aufgehenden Sonne wandert er barfuß über den schmalen Grünstreifen in der Mitte einer Autobahn. Zu beiden Seiten, nur wenige Meter entfernt, rasen Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit vorüber. Der Wind zerrt an den Gräsern zwischen den Leitplanken, wirft sie im Sekundentakt in die eine, dann in die andere Richtung. Abfälle und Glassplitter bedecken den Boden. Doch er setzt sicher einen nackten Fuß vor den anderen, während das Tosen ihn durchweht und seinen Zorn abkühlt. Er genießt diese Kräfte wie ein Mensch den Sturm auf einer Klippe, wenn das Glück des Augenblicks ein tödliches Risiko birgt.
    Er ergötzt sich an diesen Winden, die ihm nichts anhaben können. Dann und wann verjagt er ein Tier, das sich hierher verirrt hat; er scheucht die kleinen Kreaturen hinaus auf die Fahrbahn, ihrem Verhängnis entgegen. Nicht weil er ihr Sterben genießt, sondern weil er glaubt, dass ein schneller Tod eine Gnade ist. Allemal besser als dieses Kauern und Ausharren und Warten auf eine Möglichkeit, die nicht kommen wird.
    Die Fahrer der Autos, die von Norden und Süden an ihm vorbeirasen, vergessen ihn auf der Stelle. Sie sehen einen Mann mit grauem Haar, der in einem schneeweißen Anzug über den Mittelstreifen der Autobahn wandert. Doch ehe das Bild etwas auslösen kann – einen Ausruf der Verwunderung, einen Anruf bei der Polizei –, ist es schon verblasst. Und so schreitet er voran, denkt nach, schmiedet Pläne, saugt die Gewalten der Umgebung in sich auf.
    Er weiß, dass auch er Gewalt anwenden muss, um ans Ziel zu gelangen, weit mehr, als er angenommen hat. Guignol erwartet ihn ein Stück weiter südlich. Auf einem grauen Parkplatz für Reisende, wo niemand sich über eine Limousine mit verdunkelten Scheiben wundert.
    Bis dorthin liegen noch mehrere Kilometer vor Libatique und er nutzt jeden Schritt, um nachzudenken und seine ruhmvollen Träume in Verse zu fassen.

Zweiter Akt
libatique

23.
    Gegen Mittag verließen Ash und Parker bei Le Luc die Autobahn. Bald wurde die Landstraße schmaler und verlief in Serpentinen an schroffen Hängen entlang, durch Streifen aus grellem Sonnenschein, die sich mit den Schatten knorriger Korkeichen abwechselten. Wenn die Bäume sich einmal lichteten, gab es spektakuläre Aussichten über bewaldete Täler und Bergkuppen.
    »Dahinter liegt das Meer«, erklärte Parker. »Eigentlich sind es nur ein paar Meilen bis zur Küste, aber quer durch die Berge ist es eine ziemliche Himmelfahrt.«
    »Ich will es trotzdem sehen«, sagte Ash.
    »Von La Garde-Freinet aus fährt einmal am Tag ein Bus. Das ist der nächste Ort.«
    »Parker«, sagte sie ruhig, »wenn du mich loswerden willst, dann musst du es nur sagen. Ich steige auch hier aus, wenn du willst. Irgendwer wird mich schon mitnehmen.«
    »Es gab mal diesen Film über englische Anhalterinnen, die in Südfrankreich verschleppt und –«
    Schärfe lag in ihrer Stimme, als sie ihm ins Wort fiel: »Sag einfach, dass ich gehen soll, und ich bin weg!«
    Mit einem Seufzen drückte er die Arme am Steuer durch und presste seinen Rücken in den Fahrersitz. »Lass mich nur kurz mit meinem Vater sprechen. Danach bringe ich dich runter

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