Aschebraut (German Edition)
wurde von dem grellen Sonnenlicht geblendet, das von vorn in den Wagen fiel, und war mit ihrem Dad zusammen, ihrem Dad, der schluchzend über seinem Lenkrad lag?
Sie spürte eine Hand und drückte sie. Clea. Cleas Hand. Und hörte Cleas ruhige Stimme. »Daddy, die Ampel ist grün.«
»Clea!« Keuchend fuhr sie aus dem Schlaf, hörte aber immer noch die Schwester, die mit ruhiger Stimme sprach. Clea, die im selben Zimmer war wie sie und sich mit der Stimme eines jungen Mädchens mit ihr unterhielt … »… und Mama wollte mir verbieten, Tagebuch zu führen, aber ich habe ihr gesagt, auch Anne Frank hätte Tagebuch geführt, als sie sich verstecken musste.«
Nein, nicht Clea, sondern Lula Belle. Lula Belle, die sich auf dem Bildschirm weit nach hinten beugte, ihre Beine spreizte und den Kopf mit all dem flauschig weichen Haar in ihren Nacken warf. »Das Tagebuch von Anne Frank hieß Kitty. Sie hat Kitty sehr geliebt …«
Brenna war, während sie sich die von Gary geschickten Filme angesehen hatte, vor dem Laptop eingenickt.
»›Du musst dich aber nicht verstecken, Lula Belle‹, hat Mama zu mir gesagt. Aber sie wusste, dass ich mich verstecke. Vor der ganzen Welt und vor allem vor ihr.«
Brenna saß seit Stunden da und sah sich die Filme in chronologischer Reihenfolge an. Lula Belle hatte fast hundert Videos produziert, und obwohl sie sich inzwischen beinahe siebzig davon angesehen hatte, konnte sie einfach nicht nachempfinden, weshalb Gary, Trent und vielleicht auch Errol von der Frau ohne Gesicht – auch wenn sie zugegebenermaßen ausnehmend beweglich war und ihren Zuschauern ihre intimsten Gedanken zu enthüllen schien – derart besessen waren.
Ganz im Gegenteil würde sich Brenna eher freiwillig Insektenspray in beide Nasenlöcher sprühen, als auch nur noch einen Satz zu hören, in dem Lula Belle über sich selbst sprach. Konnte sie nicht auch mal über etwas anderes sprechen? Über Politik? Das Wetter? Ein Rezept für Schokoladenplätzchen? Himmel, alles wäre besser als der nervtötende, pseudointensive Monolog, von dem sie während des gesamten Nachmittags berieselt worden war – denn abgesehen von der kitschigen Melodie der Worte war er vollkommen bedeutungslos.
»Ich will meine Kitty, Mama. Ich will meine eigene Kitty haben.«
»Die hast du ja wohl monatelang gehabt.« Brenna schaltete erbost das Video aus und atmete erleichtert auf, als sie statt eines zuckersüßen Südstaatenakzents nur noch das Summen ihrer Heizkörper und den New Yorker Straßenlärm vernahm.
Ehrlich, langsam kam sie zu der Überzeugung, dass das Lied von dem Zementmischer – genau wie Lula Belles Entscheidung, ausgerechnet City Island als Adresse ihres letzten Postfachs anzugeben – einfach ein bizarrer Zufall war. Vielleicht hatte Brennas Vater sich das Lied ja gar nicht ausgedacht. Vielleicht hatte er es einfach ein-, zweimal im Radio gehört, genau wie Lula Belle, von der eine Geschichte um das Lied herum gewoben worden war. Weil sie sich wahrscheinlich all ihre Geschichten einfach aus den Fingern sog.
Die Widersprüche zwischen den verschiedenen Erzählungen verrieten sie. Beispielsweise hatte sie in einem ihrer ersten Filme lang und breit erzählt, sie hätte »ihr gesamtes Leben immer nur im Haus verbracht und nie was anderes gesehen«, später aber vom Rauschen des Ozeans, der salzigen Luft und dem Gefühl des Sandes zwischen ihren Zehen geschwärmt, als sie als kleines Kind am Meer gewesen war. Oder einmal liebte und vermisste sie den Vater, ein paar Filme weiter aber war sie froh, ihn los zu sein. Einmal hatte er sich in den Kopf geschossen, dann aber war er urplötzlich einfach abgehauen. Anfangs hatte sie bereits mit vierzehn den ersten Sex gehabt, bevor sie erst mit achtzehn von dem Jungen, dessen Namen sie nicht nennen wollte – auch wenn sie von ihm beinahe genauso häufig wie von ihrer bösartigen Mama sprach – entjungfert worden war.
Wenn Gary Freeman wirklich glaubte, Lula Belle hätte ihr wahres Ich in ihren Videos enthüllt, lag das sicher einfach daran, dass der Großteil seines Bluts bei ihrem Anblick aus seinem Gehirn in einen anderen Körperteil geflossen war.
Plötzlich piepste Brennas Laptop, und ein Funke falscher Hoffnung führte dazu, dass ihr Herz ein wenig schneller schlug.
Jim.
Bis vor kurzem hatte er fast jeden Abend stundenlang mit ihr gechattet, und sie hatte diese Plaudereien geliebt.
Sie hatte ihren Exmann schon seit Jahren nicht mehr gesehen, denn ein Blick in
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