Aschebraut (German Edition)
seine Augen, seine Stimme und die Wärme, die Jim Rappaport verströmte, lösten eine Woge von Erinnerungen aus, in der sie regelrecht ertrank. Sie und Jim in einem Raum – bereits der Gedanke war ihr unerträglich.
Jedoch nicht, weil die Erinnerungen negativ gewesen wären, sondern weil sie in Gedanken stets die positiven Augenblicke neu durchlebte, was sie innerlich ein wenig sterben ließ und auch oder vor allem ihnen allen gegenüber einfach unfair war. Das hatten weder Jim noch ihre Nachfolgerin Faith noch Brenna selbst verdient.
Aber während ihrer Chats hatte sie nur die Worte auf dem Monitor gesehen, was kein Problem für sie gewesen war. Jim und Brenna schliefen beide schlecht und hatten sich deswegen oft zu vorgerückter Stunde über ihre Arbeit, irgendwelche Neuigkeiten und vor allem über Maya ausgetauscht. Sie hatten sich gegenseitig Ratschläge gegeben, sich bei der Erinnerung an alte Späße amüsiert und einander Links zu neuen Liedern oder Filmclips auf YouTube geschickt. Alles anständig und eher banal. Trotzdem hatten sie ein knappes Jahr lang beinahe jede Nacht gechattet, bis es fast zu einer Sucht geworden war. Vielleicht klang es etwas seltsam, aber eine derart tiefe und erfüllende Beziehung hatte Brenna nie zuvor gehabt – bis ihr Jim eröffnet hatte, dass er mit dieser Form der Nähe Probleme hätte. Weil sie ihm zu wichtig war.
Seither hatte er sich nicht noch mal bei ihr gemeldet. Was sie durchaus nachvollziehen konnte. Aber trotzdem konnte sie sich noch genau an jeden Chat erinnern – jeden Scherz und jeden Ratschlag, jeden Rückblick auf die schönen Augenblicke der gemeinsamen Vergangenheit, jeden Videoclip und jedes Wort von Jim, das je auf ihrem Monitor erschienen war.
Er fehlte ihr so sehr.
Brenna rief die Nachricht auf, und sofort schlug ihr verräterisches Herz wieder normal. Kate O’Hanlon, eine alte Freundin – oder vielleicht eher Bekannte –, schrieb: Habe die Infos, die Du haben willst.
Kate war Inspektorin bei der Post, und Brenna hatte sie sofort nach dem Gespräch mit Gary Freeman wegen des New Yorker Postfachs angemailt.
Und? , tippte sie jetzt.
Frühstück. Morgen. Artie’s.
Brenna seufzte. Kate tat niemals etwas ohne Gegenleistung – bei der immer eine Mahlzeit eingeschlossen war.
In Ordnung , tippte sie. 8 Uhr.
7 Uhr 30.
Brenna zog eine Grimasse. Alles klar!
Am besten, sie sah sich erst mal weiter Lulas Filme an, plötzlich aber dachte sie an ihren Traum zurück – den bizarren Traum von ihrem Vater, wie er schluchzend über seinem Lenkrad hing. Himmel, Brenna hasste es, wenn Männer weinten. Sie ertrug es einfach nicht, auch wenn sie nicht genau wusste, warum.
Lass es mit den Filmen erst mal gut sein.
Sie ging wieder online und rief Google auf, um dort noch mal nach Lula Belle zu suchen und zu sehen, ob sie diesmal mehr als einen Hinweis auf die vor zwei Monaten vom Netz genommene Seite, Anzeigen von diversen Bed & Breakfasts oder Suchmeldungen für vermisste Tiere fand. (Es hatte sich herausgestellt, dass Lula Belle ein ausnehmend beliebter Name für englische Bulldoggen war.)
Dann aber klickte sie auf Google Images, und als würden ihre Finger nicht von ihrem Hirn gelenkt, tippten sie den Namen ihres Exmannes Jim Rappaport. Sofort tauchte ein Dutzend Fotos auf dem Bildschirm auf, und obwohl ihr Hirn es ihnen streng verbot, gaben ihre Finger zusätzlich noch »Weihnachten 1998« ein.
Oben rechts auf ihrem Monitor erschien das Bild von Jim, der mit ihr zusammen – jung und lächelnd – auf der Weihnachtsfeier seiner Zeitung Trumpet vor dem Baum im Helmsley Palace stand. Das Bild stammte aus dem Archiv der Zeitung, und natürlich brauchte sie nicht hinzusehen, um zu wissen, was darunterstand – Chefreporter Jim Rappaport und seine Frau Brenna haben eine Babysitterin für ihre kleine Tochter engagiert und genießen den vorweihnachtlichen Spaß.
Hör auf, sagte sie sich, vergrößerte aber bereits das Bild und spürte sofort das trägerlose rote Samtkleid, in dem sie am Samstag, dem 19. Dezember 1998, auf dem Fest gewesen war. Sie hatte es vier Tage zuvor bei Dizzy’s an der Ecke 19./5. Straße gekauft. Und obwohl sie wusste, dass sie das nicht sollte, weil es allzu schmerzlich war, versank sie ohne jede Gegenwehr in der Erinnerung an jenen Augenblick …
Sie hat eine Gänsehaut und einen kalten Rücken, weil es in dem Ballsaal zieht. Jim legt ihr die Hand auf die nackte Schulter, während Etta James’ White Christmas im
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