Aschebraut (German Edition)
Kopf. »Warum hat sie mir das nicht einfach gesagt? Warum hat sie mir erzählt, Sie wären Freunde ihres Sohns?«
»Sie ist kein sehr offener Mensch«, stellte Brenna achselzuckend fest.
»Das stimmt. Das stimmt.« Er atmete vorsichtig aus, und es schien, als lösten sich sein Ärger und sein Misstrauen beim Gedanken an die Nachbarin urplötzlich in Wohlgefallen auf.
»Hildy macht sich Sorgen um ihren Sohn«, fügte Brenna noch hinzu.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, und als er Brenna wieder anblickte, sahen sie plötzlich trübe und erschreckend müde aus. »Ich würde mich gerne setzen.«
Brenna und Morasco sahen einander an. Der alte Mann setzte sich auf die Fensterbank. Brenna und Morasco klappten zwei der Metallstühle auf, die an der Wand neben der Fensterbank lehnten, und schoben sie vor die Bank.
Und dann saßen sie alle mehrere Sekunden lang schweigend da, Pokrovsky atmete tief durch, und die beiden anderen schauten ihn an, als wäre dies die unangenehmste Gruppentherapiesitzung der Welt.
»Sie hätten Hildy Tannenbaum vor dreißig Jahren sehen sollen«, setzte Pokrovsky schließlich an.
»So lange kennen Sie sie schon?« Brenna hatte nur einen dünnen Pullover an und spürte die Kälte des Metalls an ihrem Rücken.
»O ja. Ich habe sie, ihren Mann Walter und den Jungen … nun, mindestens zehn Jahre vor meinem ausgedehnten Urlaub auf Staatskosten kennengelernt.« Er sah Morasco grinsend an.
»Wie war sie damals?«, fragte der.
»Völlig anders.«
»Inwiefern?«
»Sie war ein echter Kracher.«
»Wirklich?«, fragte Brenna überrascht. In Zusammenhang mit Hildy wäre ihr ein Wort wie »Kracher« sicher niemals eingefallen.
»Walter war ein langweiliger Spießer, aber Hildy hatte dieses Blitzen in den Augen. Obwohl wir damals kaum miteinander gesprochen haben, war das nicht zu übersehen. Ich habe sie oft beobachtet, wenn sie mit einem Korb voll Wäsche runter in den Keller ging. Sie hat dabei immer gesungen, immer irgendwelche Elvis-Lieder oder Sachen von Tom Jones. Sie hat mit den Hüften gewackelt, wenn sie die Treppe runterging. Und sie hatte immer hübsche Kleider an. Dieser Walter. Meiner Meinung nach hatte der Mann sie einfach nicht verdient.«
Brenna dachte an die Hildy heute – an den zerbrechlichen, gebeugten Körper in demselben verschlissenen Morgenmantel wie am Tag zuvor, an die zitternde Stimme, die erschrockenen Käferaugen, die Perücke, die ihr in die Stirn gerutscht war – und hörte sich fragen: »Was ist mit ihr passiert?«
Was natürlich eine denkbar blöde Frage war. Das, was Hildy zugestoßen war, war auch Yuri Pokrovsky mit dem feingeschnittenen Gesicht, dem dichten blonden Haar und dem todbringenden Blick passiert. Der Lauf der Zeit. Enttäuschungen, Bedauern, Trauer, Verrat, Schuld, Reue, Krankheit, Angst und all die wunderbaren Tatsachen des Lebens, die einem die Kräfte schwinden ließen, bis man sehr viel schwächer als zu Anfang, bis man irgendwann zu schwach zum Weiterleben war.
»Sie wollen wissen, was mit ihr passiert ist?«
Brenna sah Pokrovsky an und zuckte leicht zusammen. Denn der Ärger war mit aller Macht in seinen Blick zurückgekehrt, und die Blicke aus seinen flaschengrünen Augen bohrten sich in sie hinein.
»Ja.« Sie hatte einen trockenen Mund und rückte instinktiv ein Stück mit ihrem Stuhl zurück, damit ein wenig Abstand zwischen ihr und diesem Ärger war.
»Dieser Junge«, sagte er. »Robin Tannenbaum. Er hat ihr alle Kraft geraubt.«
Pokrovsky hatte Robin Tannenbaum bereits als Jungen nicht gemocht. »Er war ein fauler Hund«, erklärte er auf Brennas Frage. »Hat den ganzen Tag in seinem Zimmer gehockt. Hildy hat ihm oft gesagt, er solle rausgehen und den Tag genießen, aber er hat gar nicht reagiert. Er hat nie den Müll runtergebracht, den Rasen gemäht, bitte oder danke gesagt. Ständig hat sie Handtücher für ihn gewaschen. Dieser Junge hat pro Tag fünf verschiedene Handtücher benutzt. Wofür braucht ein Junge derart viele Handtücher? Zumal er nicht mal besonders sauber war!«
Damals hatte Pokrovsky abwechselnd in seinem Forest-Hills-Apartment und verschiedenen Häusern in South Hampton, Princeton und Sanibel Island vor der Küste Floridas gelebt. Aber wenn er hier gewesen war, hatte Robin Tannenbaum seine Geduld auf die Probe gestellt. »Am liebsten hätte ich dem Kerl eine verpasst, wenn er mir über den Weg gelaufen ist«, gab er unumwunden zu. »Auch wenn ich weiß, dass man so etwas heute nicht mehr sagen
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