Aschenputtel: Thriller (German Edition)
gewesen. Jetzt, da sie erwachsen war, wusste sie es besser. Die Dunkelheit war ihre Freundin, und sie begrüßte sie freudig jeden Abend und jede Nacht. Das Gleiche galt für die Stille. Sie begrüßte sie, und sie brauchte sie.
Im Schutz von Dunkelheit und Stille packte Nora eine Reisetasche mit Kleidern. Wie immer im Sommer wollte der Himmel nicht richtig finster werden, aber dunkles Samtblau war dunkel genug. Der Fußboden knarrte unter ihren nackten Füßen, als sie sich im Zimmer bewegte. Das Geräusch erschreckte sie. Das Geräusch störte die Stille, und die Stille wollte nicht gestört werden. Nicht jetzt. Nicht wenn sie sich konzentrieren musste.
Eigentlich war es diesmal ganz einfach zu packen. Sie musste nicht alles mitnehmen. Sie würde nur ein paar Wochen wegbleiben.
Noras Großmutter hatte sich gefreut, ihre Stimme zu hören, als sie angerufen hatte.
» Mein liebes Kind, du kommst zu Besuch?«, hatte sie ausgerufen.
» Wenn es geht?«
» Hier bist du immer willkommen, das weißt du doch«, hatte die Großmutter geantwortet.
Die gute Großmutter. Wunderbare Großmutter. Der einzige Lichtstrahl in einer Kindheit, an die sich zu erinnern ansonsten nur wehtat.
» Ich rufe an, wenn ich die Fahrkarte gekauft habe und genau weiß, wann ich ankomme«, hatte Nora ins Telefon geflüstert und gespürt, wie sie heiser wurde.
» Das ist schön, Nora«, hatte die Großmutter geantwortet, und dann hatten sie aufgelegt.
Nora versuchte beim Packen der Tasche, klar zu denken. Sie beschloss, in ihren hochhackigen roten Schuhen zu reisen. Die Schuhe, von denen der Mann einmal gesagt hatte, dass sie billig darin aussehe, die sie jetzt aber umso mehr liebte und als Zeichen ihrer Selbstständigkeit trug.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, dass sie der Polizei ihren Namen nicht gesagt hatte. Aber sie hatte um den Kokon gefürchtet, in dem sie sich so erfolgreich ein neues Dasein eingerichtet hatte.
Die Tasche war gepackt, und Nora war bereit, die Wohnung zu verlassen.
Sie setzte sich auf die Bettkante. Es war fast zehn Uhr. Sie sollte die Großmutter anrufen und wie versprochen ihre Ankunftszeit bekannt geben.
Nora hatte gerade die Nummer aufgerufen, als ein Laut aus dem Flur sie herumfahren ließ. Nur ein einziger Laut, dann wurde es wieder still. Nora blinzelte. Da war es wieder! Ein Schritt auf den knarrenden Fußbodendielen!
Ihr Mund war trocken vor Angst, als er plötzlich in der Türöffnung stand. Gelähmt und vernichtet von der Einsicht, dass jetzt alles vorbei war, blieb sie ganz einfach auf der Bettkante sitzen. Ihre Finger hielten noch immer das Handy umschlossen.
» Hallo, Puppe«, flüsterte er. » Willst du verreisen?«
Das Handy glitt wie von allein aus ihrer Hand, und sie schloss die Augen in der Hoffnung, dass das Böse verschwinden möge. Das Letzte, was sie sah, waren die roten Schuhe, die noch immer neben der Tasche am Boden standen.
Donnerstag
Doktor Melker Holm mochte die Nachtschicht in der Notaufnahme. Zum einen liebte er es, wenn die Dinge in Bewegung kamen, wenn etwas geschah. Zum anderen genoss er in vollen Zügen die nächtliche Ruhe, die sich nach den turbulenteren Stunden zuverlässig einstellte.
Vielleicht ahnte Melker schon, als er die Schicht antrat, dass diese Nacht anders werden würde. Die Notaufnahme brummte von einer Unruhe und Aktivität, die man kaum alltäglich nennen konnte. Ein schwerer Autounfall, in den mehrere Fahrzeuge verwickelt gewesen waren, hatte viel Zeit beansprucht, und im Warteraum der Notaufnahme saß noch eine ganze Reihe weniger akuter Fälle.
Melker erkannte die Schritte von Schwester Anne, noch ehe er ihre Stimme hörte. Schwester Anne hatte ungewöhnlich kurze Beine und machte deshalb sehr kurze, aber schnelle Schritte. Ansonsten hatte Melker noch keinen einzigen Makel an ihrer überwältigenden Gestalt feststellen können. Auch wenn er dem Klatsch und Tratsch üblicherweise auswich, so hatte er doch einmal höchst unfreiwillig mit anhören müssen, dass Schwester Anne offenbar nicht unwissend war, wie sie aus ihrer Schönheit Kapital schlagen konnte.
Vulgäre Frauen, die sich an ihrem Arbeitsplatz anboten, konnten ihm gestohlen bleiben. Dennoch hatte er ausgerechnet zu Schwester Anne ein gewisses Vertrauen. Sie hatte etwas Grundsolides an sich, sie war zuverlässig. Und es gab nur wenige persönliche Eigenschaften, die Melker höher einschätzte als Verlässlichkeit.
Einige Sekunden, nachdem er sie gehört hatte, erschien Schwester Anne in
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