Assassini
daß Torricelli über die geheime Verschwörung informiert war, gab es für ihn nur eine Erklärung: Verrat. Es mußte in den Reihen der Assassini einen Verräter geben: Einer jener Männer, denen er bisher so blind hatte vertrauen können, war abtrünnig geworden.
Simon versuchte dennoch, das Attentat auszuführen: Er hatte keine Wahl; alles war vorbereitet, das Räderwerk lief bereits; der Anschlag konnte nicht mehr auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Der Mann sollte in einem Sonderzug nach Paris kommen, über eine ganz bestimmte Alpenstrecke. Alles war vorbereitet. Als dann der Überfall auf den Zug stattfand, stellte sich heraus, daß die Deutschen längst informiert und darauf vorbereitet waren. Das Kapitel über diese Katastrophe in D’Ambrizzis Testament war nur kurz und oberflächlich. Der größte Teil von Simons Truppe wurde getötet; einigen wenigen gelang die Flucht nach Paris, unter anderem auch Simon. Und dort fand er heraus, wer sie verraten hatte.
Torricelli, zur Rede gestellt und zu Tode geängstigt, konnte Simon davon überzeugen, daß er niemals die Verantwortung für eine so abscheuliche Sache übernommen hätte, gleichgültig, wie sehr er Simons Verschwörung auch mißbilligt habe. Er wisse auch nicht, wer der Verräter gewesen sei. Simon gelang es schließlich, den Betreffenden aufzuspüren – es war jener Priester, dessen Ermordung Leo, wie er mir erzählt hatte, auf dem kalten, winterlichen Friedhof in Paris miterlebte: Guy LeBecq. Nachdem Simon LeBecq getötet hatte, löste er die Assassini auf, weil – so schrieb D’Ambrizzi – Gerüchten zufolge ein vatikanischer ›Spürhund‹ auf dem Weg nach Paris gewesen sei. Soweit D’Ambrizzi wußte, war Simons letzte Amtshandlung als Befehlshaber der Assassini die Entsendung von einem oder zweien seiner Männer an die nordirische Küste, zum Kloster St. Sixtus, wo sie das Konkordat der Borgia in Sicherheit bringen sollten.
Wir hatten uns nach dem Abendessen einen Cognac im Passagierraum Erster Klasse der 727 genehmigt, als Dunn mit seinen Erläuterungen an diesem Punkt der außergewöhnlichen Memoiren D’Ambrizzis angelangt war. Zwei weitere Fragen hatten sich in meinem Hirn festgesetzt. Sie gründeten darauf, daß D’Ambrizzis Testament, wie es den Anschein hatte, jene Flut von Informationen zu bestätigen schien, die Bruder Leo mir gegeben hatte.
Erstens: Wer war der Mann im Zug gewesen? Wessen Leben hatte der Verräter Christos – alias Pere Guy LeBecq – gerettet?
Und zweitens: Warum hatte D’Ambrizzi diese ganze Geschichte zu Papier gebracht? Und woher wußte er soviel über die Assassini? Sicher, er war ein hoher Geistlicher, und er war damals in Paris gewesen. Aber um solche Details zu kennen, bedurfte es mehr. Und er mußte einen Grund gehabt haben, das alles niederzuschreiben! Welchen? Und warum hatte er dieses Schriftstück dann in den Staaten zurückgelassen und, wie es den Anschein hatte, schlichtweg vergessen?
Gewiß, ich war erstaunt über die Tatsache, daß dieses ›Testament‹ überhaupt existierte. Aber ich mußte mir eingestehen, daß dessen Inhalt nicht viel Neues zu dem beitrug, was ich bereits von Bruder Leo und von Gabrielle LeBecq erfahren hatte. Das sollte nicht heißen, daß ich Father Dunns Enthüllungen herabwürdigen wollte, aber es entsprach nun mal der Wahrheit. Die einzig wirklich neue Erkenntnis für mich war die Tatsache, daß D’Ambrizzi damals verfolgen konnte, wie die ›Pius-Verschwörung‹ in die Tat umgesetzt worden war – indem die Assassini auf Pius’ Geheiß reaktiviert worden waren.
Dunn hörte mir geduldig zu, legte den Kopf ein wenig schief, als ich geendet hatte, und bedachte mich dann mit einem langen Blick aus halb geschlossenen Augen.
»Immer schön langsam junger Freund. Hab’ ich gesagt, das ist schon alles?«
D’Ambrizzi blieb nach den Geschehnissen noch eine Zeitlang in Paris und wurde Zeuge, wie das Schicksal der abtrünnigen Assassini, die nun vom Vatikan und den Nazis verfolgt wurden, seinen Lauf nahm. Das Frühjahr 1944 ging vorüber, der Sommer; im August wurde die Stadt von den einrückenden Truppen der Alliierten befreit, und die deutschen Besatzer waren verschwunden, wenngleich der Krieg in Europa noch ein Dreivierteljahr dauern und einen hohen Blutzoll fordern sollte.
Das Leben in Paris war chaotisch. Lebensmittel, Medikamente und sonstige Versorgungsgüter waren knapp, und unter den Einwohnern grassierten tiefe Verbitterung, Haß und Mißtrauen.
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