Assassini
Und die Garritys hatten mir erzählt, daß die Beamten tatsächlich draußen in der Kapelle und im Haus alles durchsucht hätten. Aber ich sah keinerlei Hinweise auf dahingehende Bemühungen. Die Tür zu Vals Schlafzimmer war geöffnet. Hatten die Beamten wirklich alles durchstöbert, was Val dabeigehabt hatte?
Der Flur, lang und dunkel und bedrückend still, machte auf mich den Eindruck einer menschenleeren Galerie in einem Museum, in dem kaum mehr zu identifizierende, längst verblaßte Bilder und Eindrücke ausgestellt wurden, an die man sich nur ganz verschwommen zu erinnern vermochte; Erinnerungen an meine Mutter, Fragen, auf die es keine Antworten gab: Warum hatte sie auf solche Weise sterben müssen, und was hatte sie mir damals sagen wollen, als sie hier gestanden und die Hand mit zitternden Fingern nach mir ausgestreckt hatte? Es war ein Museum der Enttäuschungen, der geflüsterten Fragen ohne Antworten, so als wären in den Rahmen nur Bruchstücke der Bilder erhalten, und es blieb dem Betrachter selbst überlassen herauszufinden, wie das unversehrte Bild ausgesehen haben mochte, welche Bedeutung es gehabt hatte. Unser Elternhaus war immer schon ein Museum der Bruchstücke gewesen, ein Palast der Ziellosigkeit, in dem alle Flure in unbestimmbare Richtungen führten und in dem alle Gegenstände nicht genau das waren, wofür man sie hielt. Ich hatte sehr lange in diesem Haus gewohnt, ohne jemals richtig verstanden zu haben, was sich alles hier abgespielt hatte. Und jetzt war Val tot, und mein Vater lag vielleicht im Sterben, und ich war allein, und ich verstand dies alles um keinen Deut besser als damals.
Eine Stunde später stand ich in Vals Schlafzimmer vor dem Inhalt zweier Koffer, den ich auf dem Bett ausgebreitet hatte: Röcke, Pullover, Blusen, ein Strickkleid, Unterwäsche, Toilettenartikel, Kosmetik, Nylonstrümpfe, Kniestrümpfe, ein Paar Slipper, ein Paar Pumps, Jeans, Strickhosen, zwei Paperback-Ausgaben von Eric-Ambler-Romanen, eine kleine, lederne Schmuckschatulle …
Ich hatte jede Schublade durchsucht, den Wandschrank durchwühlt, unter der Matratze nachgesehen. Ich stand mitten im Zimmer und begann zu schwitzen. Etwas ganz Entscheidendes fehlte.
Der Aktenkoffer war nicht da. Es gab keine Notizbücher. Keinen Schreibblock. Kein Tagebuch. Keinen Terminkalender. Kein Adreßbuch, kein einziges Blatt Papier. Aber vor allem – keinen Aktenkoffer. Vor einigen Jahren hatte ich Val einen großen Vuitton-Aktenkoffer mit Messingschloß geschenkt. Er war zu einem bleibenden Bestandteil ihres täglichen Lebens geworden. Ihr nicht wegzudenkender Vuitton-Koffer. Für gewöhnlich war er bis zum Bersten voll mit Akten und Schriftstücken und Notizen, und sie hatte ihn immer bei sich gehabt. Ich konnte einfach nicht glauben, daß sie ihn diesmal vergessen oder aus irgendeinem Grund nicht mit nach Hause gebracht hatte. Außerdem hatte sie an einem neuen Buch geschrieben. Nein, sie hätte sich niemals, erst recht nicht von hier aus, ohne den Koffer auf den Weg gemacht. Sie mochte vielleicht irgendwelche Akten mit Materialien, die sie im Zuge ihrer Nachforschungen gesammelt hatte, in einem Büro irgendwo in Rom zurückgelassen haben – aber den Aktenkoffer hätte sie bei sich gehabt, und wenn sie ihn sich ans Handgelenk hätte ketten müssen. Aber er war verschwunden. Jemand hatte ihn mitgenommen.
Es war kurz nach sechs Uhr am frühen Abend und draußen schon völlig finster, als ich im Long Room den Hörer auflegte und ein Feuer im Kamin entfachte. Der Zustand meines Vaters war unverändert. Er war noch immer nicht bei Bewußtsein. Der Arzt war am Telefon höflich-zurückhaltend gewesen und hatte mir sein Beileid wegen Vals Ermordung ausgesprochen. Es hatte sich also schon herumgesprochen.
Die Flammen im Kamin schlugen allmählich höher, leckten an der trockenen Rinde, züngelten um die Anzündhölzer und die dicken Holzscheite. Ich ließ mich in den tiefen Sessel sinken, in dem mein Vater in der Nacht zuvor gesessen hatte: ich spürte seine Gegenwart überall um mich herum. Ich roch das Aroma seiner Zigarren, das sich mit dem Geruch nach Holz und Harz vermischte, der aus dem Kamin drang. In den Schatten am Ende des Zimmers stand Vaters Staffelei mit dem durch den Vorhang verdeckten Gemälde, an dem er zuletzt gearbeitet hatte. Das Geräusch eines Wagens auf dem Vorhof riß mich aus meinen Gedanken. Das Licht von Scheinwerfern stach durch das Fenster.
Ich öffnete die Tür, und Father Dunn trat ein,
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