Assassin's Creed: Der geheime Kreuzzug (German Edition)
Menschen sollten die Assassinen als etwas Magisches betrachten, das sie nicht verstanden, erklärte Al Mualim. Doch war diese Magie, wie jeder Zauber, nichts anderes als Realität, die sich dem Willen des Benutzers beugte.
Er brachte ihnen bei, den Orden jederzeit zu beschützen, dass die Bruderschaft insgesamt wichtiger war „als du, Altaïr. Und sie ist wichtiger als du, Abbas. Sie ist wichtiger als Masyaf und wichtiger als ich.“ Deshalb durfte das Tun eines einzelnen Assassinen dem Orden nie Schaden zufügen. Ein Assassine durfte die Bruderschaft nie in Gefahr bringen.
Und obgleich Altaïr auch diese Lehre eines Tages missachten sollte, war nicht Al Mualims Lehrstil daran schuld. Er brachte ihnen bei, dass der Mensch Grenzen erschaffen hatte und alles innerhalb dieser Grenzen als „wahr“ und „wirklich“ erklärte; tatsächlich aber seien dies falsche Perimeter, gezogen von jenen, die sich für Führer hielten. Al Mualim zeigte ihnen, dass die Grenzen der Wirklichkeit unendlich weiter waren, als die beschränkte menschliche Vorstellungskraft sie wahrzunehmen imstande war, und dass nur wenige in der Lage waren, über diese Grenzen hinauszuschauen – und nur wenige wagten es, ihre Existenz überhaupt infrage zu stellen.
Und das waren die Assassinen.
Weil die Assassinen die Welt so zu sehen vermochten, wie sie wirklich war, war den Assassinen alles möglich – alles war erlaubt.
Mit jedem Tag, an dem Altaïr und Abbas immer mehr über den Orden lernten, wuchsen sie auch enger zusammen. Sie verbrachten fast den ganzen Tag miteinander. Was Al Mualim ihnen auch beibrachte, ihre eigene tägliche Wirklichkeit war tatsächlich substanzlos. Sie bestand nur aus ihnen selbst, den Erzieherinnen, Al Mualims Unterricht und Lehrstunden bei verschiedenen Kampfausbildern, von denen jeder ein Experte in einer bestimmten Disziplin war. Und in ihrer Wirklichkeit war auch keineswegs alles erlaubt, im Gegenteil, es war alles verboten. Für Zerstreuung mussten die Jungen selbst sorgen, und so verbrachten sie Stunden damit, sich zu unterhalten, wenn sie eigentlich lernen sollten. Worüber sie jedoch kaum sprachen, waren ihre Väter. Anfangs hatte Abbas nur davon gesprochen, dass Ahmad eines Tages nach Masyaf zurückkehren würde, aber als die Monate zu Jahren wurden, erwähnte er das Thema immer seltener. Altaïr sah ihn manchmal am Fenster stehen und mit tränenglänzenden Augen ins Tal hinausblicken. Dann zog sein Freund sich zurück und wurde schweigsamer. Er lächelte nicht mehr so oft und schnell. Hatten sie vorher stundenlang geredet, stand Abbas nun lieber am Fenster.
Wenn er die Wahrheit wüsste … , dachte Altaïr. Abbas’ Trauer würde zunächst zwar auflodern und größer werden, aber dann würde sie zu einem wehen Schmerz verebben, so wie Altaïr es selbst erlebt hatte. Der Tod seines Vaters tat immer noch jeden Tag weh, aber er hatte wenigstens Gewissheit . Sie machte den Unterschied aus zwischen dumpfem Schmerz und einem ewigen Gefühl von Hoffnungslosigkeit.
Und darum sagte er Abbas eines Nachts, nachdem die Kerzen gelöscht waren, die Wahrheit. Mit gesenktem Kopf und gegen seine Tränen ankämpfend erzählte er Abbas, wie Ahmad in seine Kammer gekommen war und sich dort das Leben genommen hatte und dass Al Mualim dann beschlossen hatte, diese Tatsache vor der Bruderschaft zu verheimlichen: „Um dich zu schützen. Er hielt es so für am besten. Aber der Meister ist im Gegensatz zu mir nicht Augenzeuge deiner Sehnsucht geworden. Ich habe meinen Vater auch verloren, ich weiß, wie es ist. Ich weiß, dass der Schmerz darüber im Laufe der Zeit nachlässt. Darum habe ich dir die Wahrheit gesagt … um dir zu helfen, mein Freund.“
Abbas hatte im Dunkeln nur geblinzelt und sich dann im Bett umgedreht. Altaïr hatte dagesessen und sich gefragt, was er für eine Reaktion erwartet hatte. Tränen? Wut? Unglaube? Auf all das war er gefasst gewesen. Sogar darauf, Abbas einsperren zu müssen, um zu verhindern, dass er zum Meister lief. Womit er nicht gerechnet hatte, war … Leere. Dieses Schweigen.
26
Altaïr stand auf einem Dach über Damaskus und blickte hinab auf sein nächstes Opfer.
Der Brandgeruch weckte Übelkeit in ihm, genau wie der Anblick der brennenden Bücher. Altaïr sah, wie die Seiten sich zusammenrollten, schwarz wurden und in Flammen aufgingen. Er dachte an seinen Vater, den dieses Treiben angewidert hätte. Al Mualim würde sich ebenso davon abgestoßen fühlen, wenn Altaïr ihm
Weitere Kostenlose Bücher