Assungas Liebesnest
sich erst fassen und konnte trotz ihrer offenen Augen noch nicht viel sehen, weil die Eindrücke der nahen Vergangenheit noch zu prägnant waren.
Die Erinnerung kehrte zurück. Aus ihr bildete sich das Bild der fremden und schönen Frau. Jenny zog die Schultern hoch, als sie daran dachte. Gesehen hatte sie die Frau zuvor noch nie, und sie hatte ihr auch körperlich nichts getan, aber Jenny wußte, daß sie alles andere als eine Freundin war. Diese Person war gefährlich. Sie hat mich entführt, dachte Jenny. Weg von zu Hause...
Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie schluchzte. Sie zog die Nase hoch und schaute sich um, während sie mit den Fingern durch die Augen wischte. Allmählich fand Jenny wieder zu sich selbst und wollte herausfinden, wo man sie hingebracht hatte.
Es war eine fremde Umgebung, das stand schon mal fest. Und sie war nicht besonders hell, denn vor den Fenstern im leeren Raum hingen lange Vorhänge. Es war kalt. Es war auch klamm und feucht. Es gab keine Möbel um sie herum. Sie stand auf dem nackten Steinboden, aber sie sah an der linken Seite eine Tür, die nicht ganz geschlossen war. Jenny wußte nicht, ob es die Tür war, durch die sie gehen mußte, um nach draußen zu gelangen, für sie gab es nur diesen einen Weg.
Deshalb ging sie ihn. Sie hatte ihre Gedanken ausgeschaltet. Mit kleinen, tapsigen Schritten bewegte sie sich durch das Halbdunkel.
Die fremde Frau war nicht mehr zu sehen, und trotzdem wurde sie an diese Person erinnert. Das lag einfach an dem Geruch, der sich hier ausgebreitet hatte. Auch die Frau mit den rötlichen Haaren hatte ihn mitgebracht. Der Geruch hatte sich im Mantel der Frau festgesaugt, und als das Mädchen daran dachte, da sah sie den Mantel der Frau plastisch vor sich. Von außen schwarz, von innen gelb und leicht glänzend, wie mit Öl eingerieben.
Sie schaute zurück.
Die Frau war nicht da.
Aber sie würde kommen. Ganz plötzlich würde sie hier erscheinen, das ahnte Jenny. So wie sie auf einmal in ihrem Haus gewesen war und sie geholt hatte.
Das erinnerte sie wieder an ihre Eltern. Ma und Pa würden durchdrehen, wenn sie entdeckten, daß ihre Tochter verschwunden war. Und Jenny war nicht in der Lage, ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Jetzt hätte sie gern ein Handy gehabt, doch ihre Eltern hatten ihr den so oft ausgesprochenen Wunsch nicht erfüllt.
Über die Ruine war oft gesprochen worden, aber niemand hatte ihr erklären können, wie es tatsächlich hinter den Mauern aussah. Mit ihren Freunden zusammen hatte sie davon gesponnen, und in der Phantasie hatten sie sich alles mögliche ausgemalt. Bewohnt von schrecklichen Menschen. Von Mördern und anderen Verbrechern. Vielleicht auch von Dealern, die hier ihren Stoff loswurden. Sie kannte zwar keinen, aber in der Klasse wurde oft davon gesprochen. Besonders von den älteren Schülern.
Bisher hatte sie nichts gehört, und auch hinter der halb offenen Tür vernahm sie keine Stimmen oder irgendwelche verräterischen Geräusche.
Sie schien in diesem großen und kalten Bau allein zu sein.
Vorsichtig spähte sie in den anderen Raum hinein, der sehr groß und auch nicht leer war.
Das Mädchen blinzelte überrascht.
Dann der zweite Blick!
Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Im Dämmerlicht sah sie die Tische mit den kleinen Sesseln davor. Sie sah auch so etwas wie eine Theke, und vor allen Dingen wurde ihr Blick von der großen kalten Kugel unter der Decke angezogen.
In einer richtigen Disco war sie bisher noch nicht gewesen. Nur einmal mit ihren Eltern. Da waren sie zusammen in Urlaub gewesen. Allein durfte sie nicht losziehen, aber sie hatte von Freunden erfahren, wie diese Discos aussahen. Der Raum vor ihr erinnerte sie an eine Disco, auch wenn sie im Halbdunkel nicht besonders viel erkennen konnte.
Jenny trat einen kleinen Schritt vor. Die kleinen Sessel waren nicht leer. Dort saßen tatsächlich Gäste und warteten darauf, daß etwas passierte. Aber sie bewegten sich nicht. Für Jenny waren sie als Schatten zu erkennen.
Schliefen sie? Das wäre toll gewesen. Dann würde niemand sie auf ihrem Weg nach draußen stören können.
Dann entdeckte sie die dunklen Hindernisse auf dem Boden. Dort schienen einige Gäste zu liegen, und wenn sie dorthin ging, mußte sie über die Leute hinwegsteigen.
Alles in diesem Düstern?
Ihr schauderte davor. Sie tastete nach einem Lichtschalter und drückte darauf.
Es war kein normales Licht, das sich in diesem Raum ausbreitete. Und es ging auch nicht
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