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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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sie am Wochenende gebacken hatte – ein vielversprechender Versuch, sich selbst aufzumuntern. Sie holte Teller, Servietten und Kuchengabeln heraus und stand vor dem Kühlschrank, um die Milch herauszunehmen, als Zoë sagte: »Aber deshalb bin ich eigentlich nicht hier.«
    Sie erstarrte mit der Hand an der Kühlschranktür und blieb mit dem Rücken zur Küche stehen. David, dachte sie. Jetzt wirst du mich nach David fragen. Du bist so clever, Zoë. Ich bin dir nicht gewachsen. Sie ließ den Kopf hängen, sodass sie mit der Stirn fast den Kühlschrank berührte, und wartete darauf, dass die Axt fiel. »Oh«, sagte sie leise. »Und warum bist du eigentlich hier?«
    Einen Moment lang war es still. Dann sagte Zoë hinter ihr leise: »Um mich zu entschuldigen, nehme ich an.«
    Sallys Rückgrat wurde steif. »Ähm … wie bitte?«
    »Du weißt schon, wegen deiner Hand.«
    Sie musste heftig schlucken. Damit hatte sie zuletzt gerechnet. Wirklich zuallerletzt … Den Unfall mit ihrer Hand hatte seit dem Tag, an dem er passiert war, niemand in der Familie Benedict mehr erwähnt. Vor fast dreißig Jahren. Ebenso gut könnte man den Namen des Teufels laut aussprechen. »Sei nicht albern«, brachte sie hervor. »Da gibt’s keinen Grund sich zu entschuldigen. Es war ein Unfall.«
    »Es war kein Unfall.«
    »Doch, war es doch. Ein Unfall. Und es ist lange her. Wirklich so lange, dass wir kaum noch darauf zurückkommen müssen, und …«
    »Es war kein Unfall, Sally. Du weißt das, ich weiß das. Wir haben fast dreißig Jahre lang so getan, als wäre es nicht passiert, aber es ist passiert. Ich hab dich aus dem Bett geschubst, weil ich dich gehasst habe. Auch Mum und Dad wussten, dass es kein Unfall war. Darum haben sie uns auf verschiedene Schulen geschickt.«
    »Nein.« Sally schloss die Augen, legte die Fingerspitzen auf die Lider und bemühte sich angestrengt, die Fakten auseinanderzuhalten. »Wir sind auf verschiedene Schulen geschickt worden, weil ich für deine nicht intelligent genug war. Ich hab die Aufnahmeprüfung nicht bestanden.«
    »Du konntest doch den verdammten Stift kaum halten – wahrscheinlich, weil dein Finger gebrochen war.«
    »Ich konnte den Stift halten. Die Schule hat mich nicht angenommen, weil ich zu dumm war.«
    »Rede keinen Blödsinn.«
    »Das ist kein Blödsinn.«
    »Doch, ist es. Und das weißt du.«
    Ein langgedehntes Würgen drängte aus Sallys Magen herauf. Sie bemühte sich, es unter Kontrolle zu halten. Endlich öffnete sie die Augen und drehte sich um. Zoë stand unbeholfen auf der anderen Seite des Tisches. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen, als wäre sie fiebrig.
    »Ich habe etwas wiedergutzumachen, Sally. Wie jeder von uns. Wenn wir unser Leben auf die Reihe kriegen wollen, müssen wir der Vergangenheit ins Auge sehen.«
    »Müssen wir das?«
    »Ja. Wir müssen. Wir müssen darauf achten, dass wir … mit anderen Menschen verbunden sind. Wir dürfen nie vergessen, dass wir Teil eines größeren Musters sind.«
    Sally schwieg. Es klang so verrückt – solche Worte aus Zoës Mund. Sie hatte ihre Schwester nie als jemanden gesehen, der mit anderen Menschen verbunden war, sondern immer als völlig eigenständig. Als einzelnen Planeten. Sie brauchte nichts. Niemanden. Darum beneidete Sally sie vielleicht am meisten.
    »Ja, schön.« Zoë räusperte sich. Hob die Hand und winkte ab. »Ich habe mein Sprüchlein aufgesagt, aber jetzt sollte ich wohl gehen. Räuber fangen. Kätzchen von hohen Bäumen retten. Du weißt, wie das ist.«
    Und dann war sie draußen. Hatte die Küche verlassen, das Cottage verlassen, ging quer über den Kies und ließ ihren Schlüssel um den Finger kreisen. Sie schaute sich nicht um, als sie auf die Straße hinausfuhr, und deshalb sah sie nicht, dass Sally am Küchenfenster stand. Und dass Sally sich eine ganze Weile nicht bewegte. Ein Passant – wenn in dieser entlegenen Gegend einer vorbeigekommen wäre – hätte gedacht, sie sei zu Eis erstarrt. Ein schemenhaftes weißes Gesicht hinter dem bleiverglasten Fenster.

15
    Kurz vor Feierabend rief Steve sie an und bat sie, sich in der Stadt mit ihm zu treffen. Sie hatten nicht genug Zeit, um zu ihm nach Hause zu fahren, bevor sie Millie abholte, und deshalb schlug er ein Treffen im Moon and Sixpence vor, wo sie das erste Mal zusammen gegessen hatten. In dem Badezimmer, das sie gerade geputzt hatte, wusch sie sich hastig und brachte ihre Kleidung in Ordnung. Sie legte ein bisschen Make-up auf, aber ihr Spiegelbild

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