Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
aufgeschlossen. Das Milchschälchen stand immer noch vor dem Motorrad.
Das Alleinsein war für sie der Normalfall, dachte sie und ließ noch ein paar Katzenkekse in die hohle Hand rieseln. Das war nichts Besonderes. Manche Leute brauchten Menschen um sich, andere eben nicht. Sie dachte an das, was Pippa Wood über Geschwister gesagt hatte – dass sie sich so unterschiedlich entwickelten und wie enttäuscht sie über Lorne war. Und ganz ohne Vorwarnung tat sich in ihrem Kopf ein Ort auf, zu dem sie nicht hatte gehen wollen, und sie schaute durch eine Tür in ein Zimmer.
Es war das Wohnzimmer ihrer Kindheit. Das Licht brannte, und ein Feuer flackerte fröhlich im Kamin. Sally war ungefähr drei, und sie saß auf dem Schoß ihrer Mutter. Mum lächelte sie an und streichelte über ihr blondes Haar. Und im Schatten in der Ecke des Zimmers: Zoë, dunkeläugig und stumm. Sie saß auf dem Boden und spielte mit ihren Bauklötzen, und von Zeit zu Zeit blickte sie verstohlen auf, um zu sehen, ob Mum herüberschaute oder ihr zulächelte. Zwei so verschiedene Kinder – das eine ein niedlicher Wonneproppen, der Traum von einem Kind; das andere ein gerissener Fuchs. Boshaft, clever, eigensinnig.
Der »Unfall« mit Sallys Hand war in Wahrheit alles andere als ein Unfall gewesen. In Wirklichkeit hatte Zoë einen Wutanfall bekommen, als etwas, das sich jahrelang aufgestaut hatte, aus irgendeinem trivialen Grund plötzlich übergeflossen war. Zoë war acht gewesen, Sally sieben. Von diesem Augenblick an hatten die Eltern die beiden Mädchen getrennt gehalten, und Zoë hatte endgültig gelernt, wer sie war und auf welcher Seite des Lebens sie zu existieren hatte. Sie wusste jetzt, dass sie zum »Bösen« fähig war – fähig, »das Undenkbare zu tun«. Diese Lektion hatte sie nie wieder ungeschehen machen dürfen.
Jetzt schaute sie durch die offene Hintertür in das beleuchtete Zimmer und zu den Bildern an der Wand. Ein paar waren von der Motorradreise, und andere zeigten sie im Internat – immer lachend und unverwüstlich. Absolute Spitze in Sport und Mathe und ständig im Clinch mit den Lehrern. Jeder, der sie kennenlernte, sogar Ben, hielt sie für privilegiert, weil sie mit acht Jahren in ein Internat gekommen war. Niemand außerhalb der Familie Benedict wusste, dass es nichts mit Privilegien und Pony-Partys zu tun gehabt hatte, sondern nur darum ging, sie von Sally getrennt zu halten. Sally, die lieb war und süß und von Mum und Dad angebetet wurde. Und die sie vor ihrer grausamen und unbeherrschten Schwester beschützen mussten.
An all das hatte Zoë seit Jahren nicht mehr gedacht. Lorne hatte sie zu diesen Gedanken zurückgebracht – Lorne, ihr perfekter Bruder und die Orte, zu denen sie vielleicht wie Zoë gegangen war, weil sie glaubte, sie könnte dort ihren Gefühlen entkommen. Die Fotos. Bei denen überlief es Zoë besonders eisig. Denn auf dem gleichen Weg war sie geflohen. Vor achtzehn Jahren. Keine Menschenseele wusste davon, aber nach dem Internat hatte sie als Erstes einen Job in einem Nightclub in Bristol angenommen. Sie war noch ein Teenager gewesen, als sie sich zwölf Mal am Tag vor den Männern ausgezogen hatte. Damals hatte sie absichtlich nicht weiter darüber nachgedacht. Sie hatte gelacht und es nicht weiter ernst genommen und sich auf die Motorradtour konzentriert, die sie am Ende damit bezahlen würde. Doch manchmal, wenn sie hörte, wie jemand über Sexclubs herzog, darüber, wie billig die Frauen dort seien, war die Maske der Tapferkeit verrutscht. Dann hatte sie sich abgewandt und bei sich gedacht, den Leuten sei wohl nicht klar, dass etwas, das billig gemacht wurde, zuvor kostbar gewesen sein müsse und dass man nur etwas entwerten könne, das einen Wert habe. Aber den hatte sie – und vielleicht auch Lorne – offensichtlich längst verloren.
Vielleicht war es ein natürlicher Weg, der ein gebrochenes Kind zu Orten wie diesem Nightclub führte. Zu Orten, an denen die Dunkelheit in ihnen noch übertroffen wurde von der Dunkelheit in allen anderen.
Zoë gab den Katzen die letzten Kekse. Es hatte angefangen zu regnen, und die Tropfen trommelten leise auf die Motorradplane, die sie unordentlich an die Wand des Gartenschuppens gelegt hatte. Etwas fiel ihr ins Auge. Sie stand auf und betrachtete die Plane und die kleine Pfütze, die sich in den Falten bildete.
»Ja, heilige Scheiße«, sagte sie zu den Katzen. »Das ist es, was ich übersehen habe. Das ist es.«
21
Sally rief Steve um halb
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