Auf dem Rücken des Tigers
Patient seitdem und vor allem in den letzten Jahren gewaltsam zu zerstören trachtete.
»Wie lange gibst du mir noch?« fragte Christian burschikos.
»Sprich nicht so saudumm«, erwiderte der Arzt.
»Wie lange hält die Leber noch?« alberte Christian weiter.
»Leber?« fragte der Arzt. »Das ist noch lange nicht alles bei dir. Das Herz ist hypertrophiert. Der Kreislauf hat einen Knacks. Untergewicht, miserable Gesamtverfassung und …«
»Und von meiner Männlichkeit sagst du gar nichts?« erwiderte Christian und feixte.
Sebastian konnte nicht einschlafen, aber es dauerte lange, bis er begriff, daß seine Unruhe weder von dem drückenden Wetter noch vom Alkohol kam, den er entgegen seiner Gewohnheit getrunken hatte. Seine Erregung wurde von der Vorstellung gezeugt, daß er sich mit Aglaia unter einem Dach aufhielt und sich dabei – ohne eigenes Zutun – vorstellte, daß er mit ihr in einem Bett läge.
Erik war nach München geflogen, um Christian in das Starnberger Sanatorium seines Freundes Dr. Wolfgang Müller zu bringen, und so hatte der Neffe den ganzen Tag die Begegnung mit einer Frau gescheut, deren Berührung er unbewußt suchte.
Zudem war Sebastian sicher gewesen, daß die Polizei noch im Laufe dieses Tages vorsprechen müßte, um ihn zur Vernehmung abzuholen.
Den Polizeiapparat hielt er für die Waffe des etablierten Gesellschaftssystems und im übrigen für schläfrig und einfallslos, allenfalls dafür tauglich, bei Demonstra tionen mit dem Gummiknüppel zuzuschlagen. Polizist, wurde man nach Sebastians Meinung so wenig zufällig wie Künstler, Priester oder Sittenstrolch.
Jedenfalls würde ihn die Polizei finden. Seme Spuren leuchteten in fahndungstechnischer Blindenschrift, zu mal er sich keinerlei Mühe gegeben hatte, sie zu verwischen. Schließlich lebte Sebastian als Privilegierter im Windschatten einer Gesellschaftsordnung, die er und seine Freunde zerstören wollten: somit hatte er die Polizei wenig zu fürchten.
Wüßten Erik und Aglaia erst, in welche Geschichte er verwickelt war, würden sie alle Möglichkeiten ausschöpfen, um einen Skandal zu ersticken. Der Junge war ein wenig enttäuscht, daß die Polizei ihn durch ihr Ausbleiben um den Lohn des Zorns gebracht hatte.
Sebastian ging ins Bad und duschte. Das kalte Wasser verdrängte seine unterschwelligen Impressionen nicht. Lr sah Aglaia vor sich, wohlig ausgestreckt in ihrem Louis-quinze-Bett, das echt war, wenn auch durch zeitgemäßen Umbau elektrisch verstellbar, von Barockspiegeln umstellt.
Er sah sie allein, lächelnd, wartend. Eigentlich hätte sie dem Alter nach seine Mutter sein können, trotzdem wäre es kein Inzest. Sebastian ärgerte sich, daß er nach Aglaia gierte; er schämte sich deswegen und er schämte sich noch mehr,weil er nicht wußte, wie er diese Gier Fleisch werden lassen sollte.
Es entsprach der Übung seiner Generation, über intime körperliche Dinge zu reden, als nähmen sie diese wie das tägliche Brot. Besonders Sebastian pflegte in seinem schweizerischen Internat über sexuelle Notwendigkeiten mit der rabulistischen Routine einer Dirne zu sprechen, die seltsamerweise noch Jungfrau war: Aber reden ist noch nicht handeln, und weil er es wußte, machte er sich auf den Weg zu Aglaias Schlafzimmer.
Er ging, als träte er mit den Beinen Funken aus. Funken der Erkenntnis, daß sie seine Tante war. Zuerst wehrte er sich dagegen, dann beschwor er den von ihm sonst nicht einmal in Gedanken erwähnten Verwandtschaftsgrad. Es war eine letzte Mauer, die er vor sich selbst aufzog, um sie gleich – wenn auch mit Wadenkrampf – zu überspringen.
Wenn die Schlafzimmertür verschlossen w ä re?
Er könnte sie einschlagen.
Wenn Aglaia um Hilfe schrie?
Niemand würde es hören; das Personal w o hnte auf dem anderen Flügel der weiträumigen Villa.
Wenn sie ihn wie einen dummen jungen abfahren ließe?
Er könnte ihr Gewalt antun.
Es war ihm auch danach. Gerade nach Gewalt. Gewalt gegen Sachen, Gewalt gegen Tanten, alberte sein von hormonellen Visionen verwirrtes Gehirn.
Er wollte eindringen wie ein Räuber – und er dämpfte den Schritt.
Er hielt auf dem Gang vor der Schlafzimmerflucht und erschrak, weil ihn sein heftiger Atem verraten müßte.
Er war wie ein Eroberer aufgebrochen, um sich wie ein Dieb davonzuschleichen: wie ein Beischlafsdieb, der bereits beim Versuch zu stehlen an seiner eigenen Unschlüssigkeit scheitern müßte.
Sebastian ging in die Bibliothek, er sah forschend an den
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