Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
Tage in Zamora bleiben. Ich wollte sowieso hier einen Ruhetag einlegen, nun bleibe ich eben drei Tage. Mein schmerzender Fuß braucht Ruhe, mein erschöpfter Körper auch, außerdem muß ich unbedingt übermorgen zum Zahnarzt, der Zahn ist wohl enzündet, da muß etwas geschehen, ich kann kaum mehr zubeißen auf der rechten Seite. Außerdem ist die nächste Etappe nach Granja de Moreruela 41,3 Kilometer lang – laut meinem Führer – das kann ich sowieso nicht an einem Tag schaffen, da muß ich mir etwas einfallen lassen. Also erstmal abwarten und ausruhen. Der Kellner in diesem feinen Lokal hat einen schwarzen Schnauzbart und trägt ein gestreiftes Hemd elegant über seinen Jeans.
Ave Maria
Sonntag, der 4. Juni, Zamora
1. Ruhetag
Herrlich, ich schlafe so lange, wie ich will in meinem bequemen Hotel. Liege bis halb zehn faul in den Federn und genieße das weiche Bett und die herrliche Ruhe. Die Zahnschmerzen sind weg. Es war vielleicht doch nur der kalte Wind, der mich so geplagt hat. Ich frühstücke ruhig und lange auf der menschenleeren Plaza vor der Cafeteria neben meinem Hotel. Heute gibt es einen Orangensaft, Crostadas mit Marmelade und einen großen Kaffee. Lange entbehrte Genüsse. Die Kellnerin serviert schweigend mit bösem Blick. Nicht guten Morgen, nicht bitte, nicht danke, kein Wort. Mögen die Leute hier ihre Gäste nicht?
Heute will ich die Stadt erkunden, das „Museum der Romanik“. Gleich gegenüber meiner Cafeteria steht die romanische Kirche San Juan Bautista de Puertanueva, 12. – 13. und 16. – 18. Jahrhundert. Hier bauten wieder alle Jahrhunderte. Das sieht man gleich draußen an der Fassade, an der in zweidrittel Höhe ein Fries von Sparrenköpfen zu erkennen ist, der zeigt, daß die Kirche wohl später einmal aufgestockt wurde. Innen im halbdunklen mystischen Schiff empfängt mich eine Hallenkirche mit zwei riesigen Bögen, seltsamerweise in Längsrichtung gespannt, eine ungewöhnliche Konstruktion wie eine gewaltige römische Brücke. Darüber ein hölzerner Dachstuhl, die Sparren liegen frei, roh und unverkleidet und unbemalt. Im Chor eine goldene, strenge Renaissanceretabel, rechts und links von verspielten, überladenen Barockaltären gerahmt. Hinter einem Gitter eine schwarze, weinende Madonna. In einer Nische ruht ein schlafender gotischer Ritter mit Helm, diesmal ohne Hund, dafür mit einem Engel zu seinen Füßen. Er war wohl ein frommer Gottesmann.
Die leise Musik eines Ave Maria zittert durch die strenge Halle, so zart und sehnsuchtsvoll, daß mich ein heiliges Gefühl überfällt und mir die Tränen in die Augen fließen. Ich beginne zu weinen und bleibe lange sitzen auf der harten Bank. Ich schließe die Augen und dann fliege ich, fliege in den Himmel, um mich aufzulösen in dem unendlichen Universum, das nicht mehr das unsere ist. Die Flöten pfeifen und die Orgel schrillt und dann faßt mich eine Hand, um mich hinauf zu holen in die unendlichen Sphären, wo der Mensch endet und Gott beginnt.
Auf meinen Pilgerwegen paart sich Neugierde mit Gottessuche. Ich war immer ein Suchender, ein Suchender nach meinem Gott, nach meinem Heiligen, der mich zu ihm führen sollte. Mit vierzig war es Baghwan, mit sechzig Buddha, jetzt ist es Santiago, den ich gefunden habe am Ende meiner Wege. Er hat mich zu meinen Anfängen zurückgebracht, zu meinen Wurzeln, die ich versucht habe, herauszureißen als junger Mann der Achtundsechziger Generation, der frei sein wollte von allen bürgerlichen Zwängen der verhaßten Elterngeneration.
Auf meinen Jakobswegen erkannte ich, daß ich zurückging zu meinen Anfängen. In der Kathedrale von Santiago de Compostela fand ich mein Himmlisches Jerusalem. Als ich damals mit sechzig unter Tränen zum ersten Mal wieder mit all den anderen Pilgern zur Heiligen Kommunion ging unter den Orgelklängen der gewaltigen Kathedrale, da merkte ich, daß ich etwas verloren und nun wiedergefunden hatte: meinen Glauben. Einmal Katholik, immer Katholik. Seinen Glauben kann man nicht ablegen wie ein Hemd. Der ist tief eingeritzt in die Haut und soviel man auch daran reibt, er bleibt in einem drin.
Und dann trat ich an meinem 65. Geburtstag wieder in die Katholische Kirche ein. An dem Altar stand ich vor meiner Gemeinde, die ich nicht mehr kannte. Mit meinem Pilgerstock in der Hand und der Jakobsmuschel um den Hals gelobte ich meine Rückkehr und die Gemeinde nahm mich auf, den Pilger, der Gott wiedergefunden hatte auf seinen staubigen Wegen, seinen feuchten
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