Auf in den Urwald (German Edition)
durch die Stadt laufen. Wenn wir früher in Augsburg waren, wollte ich das immer mal machen, aber es hat nie so richtig geklappt.«
Edek war einverstanden. Sie fassten sich an den Händen und gingen schneller. Wenig später waren sie schon am Hauptbahnhof vorbei und schlenderten durch die Fußgängerzone der Innenstadt, vorbei an den hell erleuchteten Fenstern der Geschäfte.
An einer Parfümerie blieb Edek stehen. »Willst du schönes Parfüm haben als Geschenk?«, fragte er.
»Ich?«, lachte Mirja.
»Ja, gibt schönen Duft, und ich kann dann riechen ...«
»Gut, aber nur das da!« Mirja zeigte auf eine Parfümflasche, die auf einem goldenen Podest ausgestellt war.
»Chanel No. 5«, las Edek laut.
»Genau. Kostet nur 85 Euro!«
»Kein Problem. Morgen kauf ich Flasche.«
»Nein, das war nur ein Scherz. Ist doch viel zu teuer!«
»Ist zu billig für schöne Frau!«
»Nein, Edek, das war wirklich nur ein Scherz. Was soll ich mit so einem teuren Parfüm?«
»Gut riechen, für mich.«
»Du bist verrückt!«
»Okay, ich bin verrückt. Und was jetzt?«
»Jetzt gehen wir weiter!« Mirja zog Edek von der Schaufensterscheibe weg.
Nachdem sie eine Weile an einem beleuchteten Brunnen mit vielen Figuren dem plätschernden Wasser zugeschaut hatten, gingen sie einfach weiter und bogen in die Straßen ein, wie es ihnen gerade einfiel.
Plötzlich standen sie vor einem hohen Turm, hinter dem sich ein tiefer Wassergraben befand. Die Straße war zu Ende. »Fünfgratturm«, las Mirja im schwachen Schein der Straßenlaterne auf einem Schild.
»Was heißt ›Fünfgratturm‹?«, wunderte sich Edek.
»Weiß ich nicht. Ein Turm mit fünf Gräten?«
»Gräten doch nur bei Fisch!«, lachte Edek.
Sie gingen an dem Turm vorbei und setzten sich auf die Mauer des Wassergrabens. Edek legte seinen Arm um Mirja. Die großen Bäume, die den Wassergraben säumten, raschelten im schwachen Wind. Vom Wasser stieg ein leichter Nebel auf. Edek drückte Mirja fester an sich. Eigentlich hatte er schon die ganze Zeit auf einen solchen Augenblick gewartet. Den ganzen Tag davon geträumt, dass sie genau an einer so einsamen Stelle ankommen würden. Jetzt waren sie da.
»Äh ...«, räusperte sich Edek.
»Ja«, sagte Mirja.
»Äh, hast du schon mal richtig Mann geküsst?«
»Nein, und du?«
»Nein, Mann nicht.«
»Scherzkeks!«
Und dann küsste sie ihn. So weich und zärtlich, wie Edek es sich vorher nie vorgestellt hatte. Ihm wurde schlagartig heiß und plötzlich waren seine Hände an Mirjas Körper.
»Was machst du?«, flüsterte Mirja.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Edek zurück und küsste sie weiter und spürte, wie sich seine Hände unter dem T-Shirt auf ihrer nackten Haut verloren.
Als Edek zwei Stunden später in den Mannschaftswagen zurückkehrte, lag Wilfried zwar schon im Bett, war aber noch wach. Edek zog sich aus, wusch sich, warf sich mit Schwung auf sein Bett, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und schaute eine Weile die Decke an. Dann fragte er Wilfried: »Warst du schon mal mit ganzes Herz verliebt?«
Wilfried lächelte von einem Ohr zum anderen. »Ja, ich habe meinen Papa geliebt und meine Mama.«
»Ich meine nicht Vater und Mutter, o Mann!«
»Nicht Vater und Mutter?«, fragte Wilfried erstaunt zurück.
Edek schüttelte den Kopf. Der Mensch war nicht von dieser Welt, das hätte er wissen müssen. »Es gibt doch noch andere Leute, was man lieben kann.«
»Ja«, sagte Wilfried, »es steht in meinem Tagebuch.«
»Tagebuch???«
Wilfried öffnete den Schrank und holte sein Tagebuch. Edek staunte. Er hatte zuletzt ein so dickes, silbern beschlagenes Buch beim Dorfpfarrer auf dem Altar in der Kirche gesehen. Der Unterschied war nur, dass dieses Buch in Wilfrieds Händen wie ein kleines Gebetbüchlein wirkte.
Wilfried blätterte darin. »Hier steht es: ›Freitag. Onkel Ludwig Wilfried auf dem Fahrrad schiebt, Wilfried dafür Ludwig ganz viel liebt!‹«
»Onkel Ludwig? Wer ist Onkel Ludwig?«
»Onkel Ludwig lebt im Urwald.«
»Bei Affen, was?«
»Bei den Affen und bei den Krokodilen.«
Edek richtete sich auf. »Urwald, Affen, Krokodile, klar. Aber ich meine mit Liebe nicht das!«
»Was denn?«
»Wie soll ich sagen? Liebe ist, wenn Mann Frau trifft, oder Frau Mann, und dann ...« – Edek fuchtelte mit den Armen, weil er nicht die richtigen Worte fand – »und dann geben sie sich Kuss ... O Mann, bist du dumm in Kopf???«
Wilfried hörte die letzten Worte nicht mehr. Er blätterte
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