Auf in den Urwald (German Edition)
also, meinen Sohn Wilfried nun endgültig und zufriedenstellend bei Ihnen untergebracht zu haben, nachdem er in der Vergangenheit bereits zweimal die Kliniken in einem unbeobachteten Augenblick verlassen konnte. So bedauerlich es auch ist, aber meinem Sohn Wilfried kann nur durch eine dauerhafte Verwahrung geholfen werden, da er sonst imstande ist, sich selber und anderen großen Schaden zuzufügen. Wie sehr mir sein Wohl am Herzen liegt, können Sie daran ersehen, dass ich Ihrer Klinik in den nächsten Tagen eine Spende in Höhe von 50.000 Euro zukommen lassen werde, über die Sie frei verfügen können. Mit herzlichen Grüßen, Ihre Dr. Vanessa Jagenberg.«
Also bitte. Hatte es Edek nicht bereits geahnt? Schon zweimal war Wilfried aus Kliniken ausgebrochen! Und was war wohl damit gemeint, dass er sich selbst und anderen großen Schaden zufügen konnte? Wilfried war ein gefährlicher Irrer, ein Koloss mit Riesenkräften, an dem man nicht vorbeikam. Edek betrachtete noch einmal das Foto. Ohne jeden Zweifel waren Wilfrieds Geschichten über den Urwald wahr. Aber was alles war dort wirklich geschehen? Wissenschaftliche Forschungen, Krokodiljagden, Flugzeugabstürze. Und jetzt plötzlich der tote, konservierte Onkel in Augsburg. Eine verrückte Welt mit einem verrückten Wilfried und mittendrin Edek, auch schon nah am Irrewerden.
Damit musste endgültig Schluss sein. Sofort. Gleich würde Edek Wilfrieds Mutter anrufen und ihr sagen, was alles passiert sei. Sie solle kommen und ihren verrückten Sohn abholen, zusammen mit dem toten Onkel Ludwig. Was dann weiter geschah, war Edek gleichgültig. Mochte ihn die Polizei verhaften und ihn fragen. Er würde alles auf Wilfried schieben. Er habe ihn überredet, den Transporter zu stehlen, nein, gezwungen habe er ihn. Er, der kleine Edek, konnte gar nichts dagegen machen. Ihm würde man bestimmt glauben, er war ganz normal. So normal, wie nur ein Mensch sein konnte.
Edek griff entschlossen zum Handy. Die Telefonnummer von Dr. Vanessa Jagenberg befand sich oben im Briefkopf. Er wählte. Unterbrach dann die Wahl aber, denn es fiel ihm ein, dass es besser war, wenn seine Nummer nicht mitgesendet wurde. Nachdem er die Option abgeschaltet hatte, wählte er noch einmal. Das Rufzeichen ertönte. Fünfmal, zehnmal, fünfzehnmal. Edek wurde nervös. Warum meldete sich keiner? Plötzlich war eine Stimme am Apparat. »Klinik am Venusberg«, sagte sie, »Sekretariat Dr. Jagenberg.«
»Ich ...«, räusperte sich Edek, »ich ..., äh, ist Doktor Jagenberg da?«
»Wer spricht da bitte?«
»Äh, ist Doktor Jagenberg da?«, wiederholte Edek.
»In welcher Angelegenheit rufen Sie an?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang ein wenig ungeduldig.
»In Angelegenheit von Wilfried«, sagte Edek. Seine Hände schwitzten.
»Einen Augenblick!« Im Hörer klickte es, nur ein leises Rauschen war zu hören. Dann war die Stimme wieder zurück. »Bleiben Sie bitte dran. Wir versuchen, Frau Dr. Jagenberg so schnell es geht zu erreichen!«
»Ich warte«, sagte Edek. Er musste schlucken. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Die Stimme hatte nun hektisch geklungen, und im Hintergrund waren noch andere, gleichfalls hektische Stimmen zu hören gewesen. Hatte man schon auf seinen Anruf gewartet? War vielleicht schon die Polizei da? Nein, er bildete sich alles nur ein. In der Zeitung stand, die Polizei tappe noch im Dunkeln. Er musste jetzt die Ruhe bewahren, auch wenn sein Herz aufgeregt schlug und er mit einem Male das Gefühl hatte, seine Gedanken nicht ordnen zu können.
Da schepperte es im Hörer, so als habe jemand auf der anderen Seite den Hörer ungeschickt gegen etwas gestoßen, und eine außer Atem geratene Stimme meldete sich. »Doktor Jagenberg hier! Wer spricht da? Was ist mit Wilfried?«
»Äh, Ed..., äh, Eduard Ostermann hier an Telefon«, sagte Edek.
»Was ist mit Wilfried? Wo ist er?«, rief Dr. Jagenberg ängstlich, bevor Edek weitersprechen konnte.
»Wilfried ist hier, bei mir, mit seine Onkel Ludwig ...« Edek unterbrach sich, denn er musste schon wieder schlucken.
»Onkel Ludwig ...« Dr. Jagenberg sagte es so seltsam tonlos, als habe es ihr die Sprache verschlagen.
»Mit Onkel Ludwig, ja. Und, und Onkel Ludwig, der ist in Sarg und ist t-t-tot!« Das verdammte Stottern war plötzlich wieder da, und nicht nur das – Edek zitterte, er fror, als habe jemand Eisstücke in ihn hineingeschüttet.
»Ludwig ist tot«, wiederholte Dr. Jagenberg. Ihre Stimme klang immer noch
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