Auf in den Urwald (German Edition)
Ludwig« gesagt, ganz bestimmt. Warum hatte er das gesagt? So nannte Ludwig Jagenberg immer nur Wilfried, sonst keiner. Dann hatte er gesagt, Ludwig sei tot. Dabei war er seltsamerweise ins Stottern geraten. Warum? War er verunsichert? Nervös? Kam es daher, dass er Sprachschwierigkeiten hatte? Anderseits – seine Sprache war eindeutig gewesen, mochte er noch so nervös gewirkt haben. Er wollte eine Million. Genau die Million, die Ludwig der Mafia schuldete. Obwohl – er hatte nicht gesagt, dass er eine Million Dollar verlange. Aber das war sicher selbstverständlich. Eine Million Dollar für einen Sarg, in dem sonst ein anderer »Toter Mann« lag. Wer war überhaupt dieser Mann? Ein Kompagnon von Ludwig, den die Mafia bereits umgebracht hatte? Und überhaupt – wie hatte die Mafia erfahren können, dass der unbekannte Tote in Augsburg Ludwig war? Dass Wilfried sie auf die Spur gebracht hatte, war ausgeschlossen. War die Mafia vielleicht Ludwig die ganze Zeit gefolgt und hatte den Mord beobachtet? Warum hatte sie dann aber so lange gewartet und sie nicht schon früher erpresst? – Lauter Fragen, auf die Vanessa Jagenberg im Augenblick keine Antwort fand.
Aber eines wurde ihr nach und nach immer klarer, während sie unruhig ihr Zimmer durchwanderte. So einfach wollte sie nicht aufgeben. Niemals. Wenn man sie derartig in die Enge trieb, würde sie sich wehren. Was blieb ihr anderes übrig? Alle Erpressungsgeschichten der Welt verliefen immer nach dem gleichen Muster: Erst verlangte man eine Million, dann die zweite, dann die dritte. Erpresser ruhten niemals, egal ob sie von der Mafia kamen oder nicht. Sie machten so lange weiter, bis sie den Erpressten in den Ruin getrieben hatten. Der Ruin bedeutete das Ende. Es war, als setze man sich eigenhändig eine Kugel. Auf eine solch endlose, qualvoll zermürbende Geschichte wollte sich Vanessa Jagenberg nicht einlassen. Lieber, sie kämpfte gleich richtig. Wenn es sein musste, auf Leben und Tod. Und sie wusste auch schon, wie.
Der seltsame Eduardo Stermann würde bald wieder anrufen. Sie würde ohne Wenn und Aber auf seine Bedingungen eingehen. Wenn alles nach dem üblichen Erpressungsmuster ablief, würde er ihr einen einsamen Treffpunkt vorschlagen. Und spätestens dann, in dem Augenblick, wo sie ihm gegenüberstand, würde sie handeln. Eiskalt und bedingungslos. Es war die einzig mögliche Rettung.
Vanessa Jagenberg blieb vor dem Spiegel stehen, erneuerte ihr Make-up und ordnete ihre Haare. Dann verließ sie festen Schrittes ihr Zimmer. Im Sekretariat warteten schon gespannt die Sekretärin und ein paar Mitarbeiter.
»Haben Sie etwas von Wilfried erfahren, Frau Doktor?«, wollte die Sekretärin wissen. »Wo ist er?«
»Das ist noch völlig unklar. Das Handy des Anrufers hat plötzlich seinen Geist aufgegeben«, erklärte Vanessa Jagenberg mit einem besorgten Lächeln. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, glaubt er übrigens nur, Wilfried gesehen zu haben, sicher ist er sich nicht. Er hat mir versprochen, sich bald wieder zu melden. Leiten Sie den Anruf auf jeden Fall sofort auf mein Handy weiter. Ich bin in einer Viertelstunde zurück. Dann fahren wir mit den Behandlungen fort.«
Vanessa Jagenberg vergewisserte sich, dass ihr Handy eingeschaltet war, steckte es in die Tasche des Ärztekittels und ging.
Ein paar Minuten später hatte sie die hinter der Klinik liegende Park- und Wiesenanlage durchquert und war in ihrer Villa angekommen. Zielstrebig ging sie in den Keller und schob dort unter einiger Anstrengung das schwere Regal von der Wand, auf dem immer noch, verpackt in verschiedene Schachteln, Gernot Jagenbergs Pflanzenproben lagen. Hinter ihm stand in einer kleinen Nische Ludwigs große Sacktasche. Sie zerrte sie hervor. In ihr befand sich noch das ganze Geld, das sie damals, um unnötige Nachfragen und weitere Komplikationen zu vermeiden, bei der Investitionsbank in Augsburg abgeholt hatte. Überrascht von der großen Menge des Geldes, hatte sie spontan Ludwigs Tasche aus dem Wagen geholt und das Geld dort verstaut. Später einmal, wenn sie ganz sicher sein konnte, dass keine Gefahr mehr drohte, wollte sie das Geld wieder unauffällig ins Ausland bringen.
Vanessa Jagenberg griff in eine der Seitentaschen und holte den Revolver heraus, mit dem Ludwig sie noch kurz vor seinem Tod hatte erschießen wollen. Ein spöttisches Lächeln zuckte um ihren Mund. Auch wenn sie von derartigen Geschichten nichts hielt, war diese schäbige Tasche tatsächlich eine
Weitere Kostenlose Bücher