Auf in den Urwald (German Edition)
Plan so berechnet. Während er mit Vanessa Jagenberg verhandelte, sollte sie den gleißenden Strahlen der Sonne ausgesetzt sein. Ein geblendeter Gegner war nur halb so gefährlich. Ein geblendeter Gegner schoss fast immer daneben. Edek holte den Revolver aus der Jackentasche und prüfte ihn. Sechs Kugeln steckten schussbereit in seinem Magazin. Diesmal sechs echte, tödliche Kugeln.
Im Wald regte sich nichts. Alles schien erstarrt in Erwartung dessen, was gleich geschehen würde.
Edek erreichte den Bach und folgte ihm bis zu dem kleinen See. Und da war auch schon Vanessa Jagenberg. Sie wartete mit einem großen Koffer und sie trug eine Sonnenbrille.
»Ziehen Sie Sonnenbrille aus!«, befahl Edek.
»Aber die Sonne blendet mich!«, sagte Vanessa Jagenberg.
»Sonnenbrille aus!«, wiederholte Edek scharf und richtete den Revolver auf sie.
Vanessa Jagenberg fügte sich. Sie zog die Sonnenbrille aus.
»Lass Sonnenbrille fallen!«
Vanessa Jagenberg ließ die Sonnenbrille fallen.
»Schieb Sonnenbrille mit Fuß zu mir rüber!«
Vanessa Jagenberg gab der Sonnenbrille einen Stoß. Sie landete vor Edeks Füßen. Er trat drauf, das Glas splitterte. Sicher war sicher. Er durfte den Gegner nicht unterschätzen.
»Wo sind drei Millionen?«, fragte Edek.
»Hier, in dem Koffer«, sagte Vanessa Jagenberg. Ihr Kinn zitterte und Edek sah, dass über ihr Gesicht Tränen liefen.
»Warum weinst du? Bist du kleines Kind?«, fragte er wütend.
»Nein, aber die Brille, sie ist kaputt! Durch eine kaputte Brille kann man nichts mehr sehen!« Vanessa Jagenberg schluchzte.
Edek hatte es schon vorher gewusst – Vanessa Jagenberg war wie Wilfried. Verrückt. Und trotzdem musste er aufpassen. Irgendetwas sagte ihm, dass er sich in einer außerordentlich gefährlichen Situation befand. Diese Tränen waren nicht echt. Edek ließ sich nicht so leicht täuschen!
»Bring Koffer!«, machte Edek weiter.
Vanessa Jagenberg hob den Koffer an. Er war so schwer, dass sie Mühe hatte, ihn zu tragen.
»Genug!«, entschied Edek. »Und jetzt mach Koffer auf!«
Vanessa Jagenberg folgte Edeks Anweisung und öffnete den Koffer. Zum Vorschein kamen in Reihen nebeneinanderliegende, gebündelte Geldscheine. Edeks Herz schlug auf. Erregt betrachtete er das viele Geld.
»Okay. Fang an, Geld zu zählen. Langsam, damit ich sehe, dass du richtig zählst!«
Vanessa Jagenberg ging auf die Knie und holte das erste Bündel von Scheinen heraus. Edek entsicherte den Revolver und richtete ihn auf ihren Kopf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendwie verlief das Ganze zu glatt. Er musste höllisch aufpassen. Würde Vanessa Jagenberg jetzt auch nur eine falsche Bewegung machen, würde er gnadenlos auf den Abzug drücken.
Vanessa Jagenberg zählte. Bündel für Bündel. Für Edek blieb die Zeit stehen. Mit gleichbleibender Aufmerksamkeit verfolgte er ihre Bewegungen und kontrollierte die Beträge. Als Vanessa Jagenberg die dritte Million zu Ende gezählt hatte, befahl er ihr, den Koffer zu schließen und wieder auf ihre alte Stelle zurückzugehen.
»Nein«, sagte Vanessa Jagenberg.
»Warum nein?«, wunderte sich Edek.
»Weil das Spiel aus ist!«
Edek erschrak. Verdammt. Vanessa Jagenberg trug wieder eine Sonnenbrille und er konnte ihr Gesicht nicht mehr erkennen. Außerdem waren ihre Haare plötzlich grün, so grün wie die Perücke von Onkel Ludwig im Sarg des »Toten Mannes«! Woher hatte sie die Brille? Woher die Perücke? Edek hatte mal wieder nicht aufgepasst. Eine entscheidende Sekunde zu lang geträumt! Jetzt musste er schießen, um sich zu retten!
Blitzartig richtete Edek den Revolver auf Vanessa Jagenberg und drückte ab. Ein leiser, beinahe schlaffer Knall ertönte. Danach rollte die Kugel träge aus dem Lauf und fiel vor Edeks Füße.
»Es ist doch bloß ein Spielzeugrevolver«, lachte Vanessa Jagenberg mit einer hell klingenden Stimme. »Einer, der mit Druckluft betrieben wird!«
»Und dessen Ventil ich zerstört habe, weil ich Linksgewinde schrauben kann«, sagte Wilfried.
Edek riss sich herum. Hinter ihm stand tatsächlich Wilfried! Er trug in der Hand einen blühenden Löwenzahn und sah sehr betrübt aus.
»Ich habe die ganze Zeit nur so getan, als ob ich verrückt wäre«, fuhr er fort. »Ich wollte einfach wissen, ob du ein wirklicher Freund bist. Aber du bist es nicht. Du hast mich an meine Mutter verraten, Edek. Und deshalb kommst du jetzt in ein Irrenhaus. Für immer!«
»Nein! Ich komme nicht in Irrenhaus! Ich bin nicht verrückt!
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