Auferstehung
und verängstigt, während er sich sein Gesicht rieb. »Der Genosse General überließ vieles mir.«
»Personalfragen?«
»Was ist damit, Genosse Drag...«
»Sparen Sie sich das!«, polterte Dragosani. »Kein Genosse mehr, das ist bloß Zeitverschwendung. Nennen Sie mich einfach Dragosani.«
»Ja, Dragosani.«
»Personal«, sagte Dragosani noch einmal. »Wie viel haben wir momentan hier?«
»Hier im Schloss? Jetzt? Eine Rumpfmannschaft von ESPern und vielleicht einem Dutzend Sicherheitsleuten.«
»Gibt es eine Bereitschaft für den Notfall?«
»Äh, ja, Dragosani.«
»Gut! Ich will insgesamt mindestens 30 Leute hier haben. Und ich will, dass sie bis 17.00 Uhr hier sind – allerspätestens. Ich will unsere besten Telepathen und Wahrsager, und Igor Vlady muss unter ihnen sein. Ist das möglich? Können wir diese Leute bis 17.00 Uhr einberufen?«
Der andere nickte sofort. »In mehr als drei Stunden? Natürlich, Dragosani. Absolut.«
»Dann klemmen Sie sich dahinter.«
Als er allein war, lehnte sich Dragosani in seinem Sessel zurück und legte seine Füße auf den Schreibtisch. Er dachte darüber nach, was er tun sollte. Wenn die Ostdeutschen Keogh schnappten, insbesondere wenn sie ihn töteten (in diesem Falle musste Dragosani sicherstellen, dass er persönlich die Leiche in die Hände bekam), würde das mit Sicherheit Keoghs Mitwirkung an dem Aufruhr der kommenden Nacht ausschließen. Oder etwa nicht?
In jedem Fall war es schwer vorstellbar, wie Keogh es überhaupt von Leipzig hierher schaffen konnte, und das in nur ein paar Stunden. Also sollte sich Dragosani vielleicht auf eine andere Möglichkeit vorbereiten – bloß auf welche? Sabotage? Trat der kalte ESP-Krieg endlich in die heiße Phase? Hatte der Mord an Sir Keenan Gormley eine Art langsamer Zündschnur in Brand gesetzt, die vielleicht schon vor langer Zeit gelegt worden war? Was konnte dem Schloss denn schon zustoßen? Dieser Ort war so uneinnehmbar wie eine Burg. 50 Keoghs würden es nicht einmal über die äußere Mauer schaffen!
Wütend auf sich selbst und seine steigende innere Anspannung zwang sich Dragosani, Keogh aus seinem Bewusstsein zu drängen.
Nein, diese Bedrohung musste irgendwo anders ihren Ursprung haben.
Er dachte über die Befestigungsanlagen des Schlosses nach. Dragosani hatte die Notwendigkeit, das Schloss zu befestigen, nie ganz verstanden, aber nun war er wirklich froh um die Verteidigungsanlagen. Natürlich war der alte Borowitz ein Soldat gewesen, lange bevor er das E-Dezernat gegründet hatte; er war ein tüchtiger Stratege, und zweifellos hatte er gute Gründe, auf dieser hohen Sicherheitsstufe zu bestehen. Aber hier, direkt vor den Toren Moskaus? Wovor hatte er sich gefürchtet? Nicht, dass dies der einzige befestigte Ort der UdSSR gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Die Raumfahrtzentren, Nuklear- und Plasmaforschungsanlagen und die Laboratorien für chemische und biologische Kriegsführung in Berezov standen allesamt unter scharfer Bewachung.
Dragosani schnitt eine finstere Miene. Wie sehr wünschte er sich, Borowitz jetzt hier zu haben, unten im Operationssaal, ausgestreckt auf einem Stahltisch, mit heraushängendem Gedärm und aller Geheimnisse seiner Seele entblößt. Nun denn, auch das würde noch geschehen.
»Genosse Dragosani!«, erschallte die Stimme des OvD von gegenüber und riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich habe das GREPO-Hauptquartier in Berlin in der Leitung. Ich stelle Sie jetzt zu ihnen durch.«
»Gut«, rief er zurück. »Und während ich mit ihnen spreche, können Sie noch etwas anderes erledigen. Ich will, dass das Schloss von oben bis unten durchsucht wird. Besonders die Gewölbe. Soweit ich weiß, gibt es da unten Räume, in denen noch kein Mensch war. Nehmen Sie das ganze Gebäude auseinander. Suchen Sie nach Bomben, Brandsätzen und allem, was irgendwie verdächtig aussieht. Ich will so viele Männer wie möglich – besonders die ESPer. Verstanden?«
»Ja, Genosse, natürlich.«
»Also gut, dann lassen Sie mich jetzt mit diesen verdammten Deutschen reden.«
Es war 15.15 Uhr. Auf dem Stadtfriedhof in Leipzig herrschte arktische Kälte. Harry Keogh hatte sich in seinen Mantel gehüllt, eine schon lange geleerte Thermoskanne Kaffee auf dem Schoß, und saß steifgefroren am Fuße von August Ferdinand Möbius’ Grab und verzweifelte. Er hatte versucht, sein ESP-Bewusstsein – sein ›metaphysisches‹ Talent – auf die hypothetischen Eigenschaften der veränderten Raumzeit und
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