Augenblick der Ewigkeit - Roman
Sonnenlicht getaucht, Licht derselben Sonne, die eben erst über den Berkshire Hills untergegangen war.
» Wir haben ihn angehimmelt, oder…« Anna nahm ein locker liegendes Foto aus dem Album heraus, das sie als sechsjährige Mädchen zeigte, mit eingerollten, von einem Schleifenband gehaltenen Haartollen. Sie saßen in Nachthemden auf einer Treppe und hatten ihre Köpfe zwischen die Geländerstangen gezwängt, die sie mit den Händen umklammert hielten, und blickten ins Treppenhaus hinunter, mit rätselhaft aufgerissenen Augen und einem zögernden, erwartungsvollen Lächeln, als würde das, worauf sie ihre Blicke richteten, sie gleich in lustvolle Panik versetzen und kreischend auseinanderstieben lassen.
Dresden, Leipzig – März 1933
Ich rieche, ich rieche…« Ein Bär kam die Treppe heraufgetapst. Auf dem unteren Treppenabsatz machte er halt, schnüffelte und schüttelte den Kopf. » …ich rieche Menschenfleisch!«
Der Bär richtete sich auf. Anna und Sophie quietschten vor Vergnügen, rutschten auf der Treppenstufe hin und her und schlugen unter dem raschelnden Stoff ihrer Nachthemden die Knie aneinander. Als Karl das Bärenfell abstreifte, um auf sie zuzustürzen, sprangen sie kreischend auf und rannten davon. Auf allen vieren folgte er ihnen die Treppe hinauf. » Ich rieche, ich rieche…«
Anna und Sophie kauerten unter einem Abstelltischchen und wagten kaum zu atmen. » …ich rieche, ich rieche…« Sie klammerten sich aneinander, während Karls Stimme immer näher kam. Durch die Seidenfransen eines Tischtuchs konnten sie schon seine Schuhe sehen. Sie hielten den Atem an. Er stand direkt vor ihnen. » …ich rieche, ich rieche…« Doch dann drehte er sich um, als entfernte er sich wieder. » …Menschenfleisch!«
Im selben Augenblick wurde das Tuch vom Tisch gerissen, und Anna und Sophie stoben in höchster Angstlust, mit schrillen spitzen Schreien unter dem Tisch hervor. Sie flüchteten in ihr Kinderzimmer, als ihre Mutter in der Tür auftauchte und energisch in die Hände klatschte. » Ab in die Betten!«
Die Kinder maulten. » Nur einmal noch, Mami…«
» …wir sind hellwach!«
Wie zum Beweis hängten sie sich rechts und links an Karl wie an einen Henkeltopf.
» Lassen Sie nur, Frau Gottwalt. Ich bringe sie ins Bett!«
» Aber nicht zu lang. Das salbungsvolle Gebrüll des Reichsreklameleiters hat bereits begonnen…«
» Sagen Sie Ihrem Mann, ich bin gleich bei ihm.«
Die Mädchen hatten sich aneinandergekuschelt und ihre Gesichter in die Kissen gedrückt, die Daumen bis zum Wurzelanschlag im Mund. Karl setzte sich zu ihnen auf die Bettkante. » Also– es war einmal ein Warzenschwein, das wollte ohne Warzen sein…«
Im Nu sprangen die Zwillinge aus den Federn und setzten sich zu ihm, eine rechts, die andere links.
» Hatte es vielleicht auch einen Namen…«
» …hieß es nicht zufällig Theodora?«
Karl tat, als ob er überlegte. » Also gut, wie ihr wollt– Theodora Warzenschwein, die wollte ohne Warzen sein…«
» Weil keiner mit ihr spielen wollte!«
» Soll ich weitererzählen oder ihr?«
» Nein, du…«
» Da nahm es einen Höllenstein und rieb damit die Warzen ein…«
Sofort stieß er wieder auf Protest. » Tante Hilde hat ihre Warze weggekriegt, weil sie zu einer Hexe gegangen ist…«
» …die, die Warzen bei Vollmond weggehext hat!«
» Sollte Theodora dann nicht auch zu Tante Hildes Hexe gehen, die ihr alle Warzen weghext…«
» …und die anderen Tiere kommen und spielen mit ihr Fußball und Versteck!«
Die Zwillinge hatten die Geschichte in ihrer apodiktischen Art selbst in die Hand genommen.
» Jetzt aber kommt das Tollste! Als sie nach Hause kam…«
» …sagte ihre Mami: › Du siehst ja verboten aus?‹«
»› Wo sind denn alle deine Warzen hin‹…«
» … › wer hat denn das gemacht?‹«
»› Die Hexe!‹«
»› So eine Unverschämtheit!‹«
» Und Mami Warzenschwein ging zu der Hexe, die auf einem Deich wohnt…«
» …und schlug ihr ihren Hexenbesen um die Ohren, so!«
Anna schlug mit der flachen Hand auf die Bettdecke, und Sophie tat es ihr nach. » Ja, und die Hexe sagt: › Geht schon in Ordnung, Frau Warzenschwein‹…«
» …und Theodora hatte alle ihre Warzen wieder! War es nicht so?«
Karl nickte. » Ja, genau so könnte es gewesen sein. Und sie nahm Theodora in ihre Arme und sagte…« Er beugte sich zu den beiden Mädchen hinunter und flüsterte ihnen ins Ohr: »… › meine beiden kleinen Warzenschweine, ich
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