Augenblick der Ewigkeit - Roman
verrückt geworden, Fränzchen! Ist dir denn klar, daß auch die Kostüme und die Ausstattung völlig neu entworfen werden müssen?«
» Eine ziemlich große Summe, ich habe alles durchgerechnet. Aber das ist meine Sache.«
» Das heißt also…«
Sie verharrte in seiner Umarmung. » …daß du deine Chance verdammt noch mal bekommen sollst, Maestro!«
» Und warum tust du das für mich?«
» Weil ich– weil, das ist meine Sache, Karel Bohumil!«
» Wenn du wüßtest, Fränzchen…« Bevor er weitersprechen konnte, versiegelten ihre Lippen seinen Mund.
» Nein, sag jetzt nichts, mein Karel. Sag es erst, wenn die Premiere vorüber ist.«
Schweigend standen sie am offenen Fenster. Plötzlich brach das Quirilieren der Vögel draußen in der Baumkrone ab, wie das dissonante Einstimmen im Orchester, wenn der Dirigent erscheint. Auf einem Ast hatte sich eine Krähe niedergelassen. Karl erschrak. Das wunderliche Tier erschien ihm wie ein Unglücksbote.
» Was wird dein Vater dazu sagen?«
» Papa? Papa wird Augen machen! Aber das ist seine Sache.«
» Das Wichtigste, ich brauche eine Alternative für Maier-Schott, einen Tenor, der jung ist, schön und auch noch singen kann!«
» Das ist zwar deine Sache, ich aber weiß, wo einer ist.«
Franziska blickte über die Balustrade auf Karl hinunter, der unter ihr auf einer Holzbank saß. Ein Hut bedeckte seinen Kopf, und er hatte die Hände zum Gebet gefaltet. Sie saß unter den Frauen auf einer Galerie und erlebte den Gottesdienst wie früher in der » Schul« von Eisenstadt. Nie hatte sie das rhythmische Klatschen und gedämpfte Stampfen vergessen, das sich mit dem Singsang der Gemeinde mischte, bis die Gesetzesrollen auf der »Bima« lagen, Hülle und das Band gelöst, und beide Teile auseinandergerollt wurden. Damals trugen die Männer noch schwarze Mäntel, pelzbesetzte Hüte und Schläfenlocken– von den Dorfkindern » Lausrutschen« genannt– und kamen an manchen Abenden nach der Feier in der Synagoge ins Gutshaus von Donnerskirchen zu Besuch, orthodoxe Juden der Esterházyschen Siebengemeinden, die seit Jahrhunderten unter dem Schutz des Majoratsherrn standen und ihren Vater um Hilfe baten, fürchteten sie doch Anfang der zwanziger Jahre mit der Angliederung ihrer burgenländischen Gemeinden an die Republik Österreich um ihre Autonomie und konfessionellen Rechte. Jeder einzelne Rabbiner wurde von ihrem Vater respektvoll mit seinem Namen angesprochen– Reb Simon Löwy aus Frauenkirchen, Reb Moses Perls aus Kittsee, Reb Jakob Grünwald aus Deutschkreuz, Reb Moses Kretsch aus Eisenstadt und Reb Samuel Ehrenfeld aus Mattersdorf.
An der Ostwand der Brünner Synagoge öffneten zwei Männer in weißen Gebetsmänteln die Türen eines schulterhohen Schreins, in dem die Thorarollen hinter einem Vorhang standen. Ein Rabbiner und der Synagogenvorsteher legten die heiligen Texte dem jungen Kantor an die Schulter. Begleitet vom Gesang der Gemeinde wurden sie in einer feierlichen Prozession durch den Innenraum des Tempels getragen. Ein Vorspiel erklang auf dem Harmonium, und darüber erhob sich die strahlende Stimme eines jungen Mannes, der mehr Sänger war als Vorbeter oder Kantor.
» Shir hama’lot. Beshuv Adonai et shivat Zion Hayinu kecholmim.«
Ergriffen lauschte sie der Naturstimme des jungen Chasan. Sie klang sehr zart und war zugleich von großer Kraft. Sein melismatischer Gesang drang tief ins Innere der Gläubigen, und seine Stimme, die ohne Anstrengung zwischen Brust- und Kopfregister wechselte und in die höchsten Höhen vorstieß, erfüllte die Gemeinde mit göttlicher Kraft.
» Az yimaleh tzchok pinu ul’shonenu rinah. Az yomeru bagoyim!«
» Wissen Sie denn schon, wo Sie jetzt übernachten werden, Herr Steinberg?«
Der Kantor blickte überrascht auf und schüttelte den Kopf. Er saß im Warteraum des Bahnhofs, ärgerte sich, daß er den letzten Zug nach Preßburg verpaßt hatte, und versuchte auszurechnen, ob sein Geld für ein Hotelzimmer reichte. Sein schmaler Kopf war von einem Pelzchen kurzgeschorener Haare überzogen, auf denen eine Kippa saß, und auf dem scharfen Nasenrücken klemmte ein randloser Kneifer. Seine bleichen Wangen waren glattrasiert, und auf seiner Oberlippe wuchs ein goldblonder Schnurrbart, der ebenso kurzgeschnitten war wie die Haare auf seinem Kopf.
Im ungarischen Pozsany hatte Yossele Steinberg schon als kleines Kind im israelitischen Tempel Texte aus der Thora deklamiert. Wenn er mit seiner reinen und kräftigen
Weitere Kostenlose Bücher