Augenblicklich ewig
Kopfschmuck, der noch vor ein paar Jahren getragen worden war. Doch der weite Rock störte sie beim Laufen und das Korsett schnürte ihr die Luft ab. Wie so oft, wenn sie eines ihrer Ausgehkleider trug, hoffte Polly, es würde einmal eine Zeit kommen, in der von Damen nicht länger erwartet wurde, sich in Gestänge zu zwängen, um ihrem Körper eine unnatürliche Form zu verleihen. Auch Sam, der in seinem langen Gehrock und der schmalen Hose sehr elegant wirkte, schien sich nicht ganz wohl zu fühlen, was an dem engen Kragen liegen musste, der ihm ebenfalls kaum Freiraum zum Atmen ließ. Polly konnte Sam dennoch nicht aus den Augen lassen. Sein leicht zerzaustes Haar stand im starken Gegensatz zu seiner strengen Kleidung und dem steifen Zylinder auf seinem Kopf, den er gleich, wenn sie das Gebäude betraten, abziehen würde. Dann würde er bis auf den hohen Kragen wieder jung, verschmitzt und unkonventionell wirken, ganz so, wie sie ihn am liebsten sah.
In ihrem Inneren war die Sing-Akademie zu Berlin ebenso prächtig wie von außen betrachtet. Das noch relativ neue Gebäude verfügte über eine eindrucksvolle Fensterfront und zahlreiche fein gearbeitete Säulen, die ebenso wie die hohe Decke mit wunderschönen Stuckarbeiten und Malereien für die majestätische Wirkung des Raumes sorgten. Während die Gäste sich auf ihre Plätze begaben, war die Atmosphäre erfüllt von leisem Flüstern und dem Rascheln der Röcke. Polly war froh, als sie und Sam einen Platz im vorderen Teil zugewiesen bekamen, so hatten sie einen bessern Blick auf die Musiker und Sänger. Das Premierenstück stammte von einem jungen Komponisten namens Felix Mendelssohn Bartholdy, der sie schon mit seinen Symphonien verzaubert hatte. Die Walpurgisnacht hingegen versprach wild und mystisch zu werden. Als einige Lichter gelöscht wurden, um den Fokus der Gäste auf die Bühne zu richten, ergriff Sam heimlich im Schutz ihres Kleides Pollys Hand. Eine Geste, die, würde sie von den anderen entdeckt, sicher Kopfschütteln, wenn nicht sogar einiges an Aufregung nach sich gezogen hätte. Aber Polly genoss Sams Liebesbezeugungen. Ob sie nun verboten, verpönt oder auch erlaubt waren, ihr war es Einerlei. Die Hauptsache war, Sam war an ihrer Seite und sie konnte sich in seinen Augen verlieren, bis sie die Welt um sich herum vergaß.
Die Musik spielte auf und Sam lächelte sie an, bevor er seinen Blick nach vorne richtete. Und obwohl sie sich wie immer nur schwer von seinem Anblick losreißen konnte, wandte auch sie ihren Blick auf die Musiker und den Rücken des jungen Dirigenten.
Polly schrak aus ihrem Traum auf. Beinahe konnte sie noch fühlen, wie sich Sams Finger mit ihren verschränkten, wie sein Daumen über ihren Handrücken strich, konnte die Wärme seiner Haut auf der ihren spüren. Polly bekam eine Gänsehaut, halb vor Schreck und halb vor Wohlgefühl. Der Traum erschien ihr so echt, als wäre sie tatsächlich mit Sam dort gewesen, als wäre er eine Erinnerung und kein Produkt ihrer Fantasie. Sie beschäftigte sich andauernd in Gedanken mit Sam und hatte auch fast den gesamten vergangenen Tag mit ihm verbracht. Kein Wunder also, dass ihr Unterbewusstsein ihn in ihre Träume einbaute. Nur war dieser ihr realer erschienen als sämtliche ihrer Träume zuvor. Sie hatte die ersten Takte der Walpurgisnacht genau im Ohr, obwohl sie sich absolut sicher war, das Stück noch nie zuvor, zumindest nicht bewusst, gehört zu haben. Wie also konnte sie es in ihren Traum einbauen? Das Gebäude in Berlin, in dem das Konzert stattgefunden hatte, kannte sie. Betreten hatte sie es jedoch nie. Polly versuchte, sich mit einem Kopfschütteln aus ihren Grübeleien zu befreien, und sprang energisch aus dem Bett. Wahrscheinlich hatte sie den Raum auf irgendeinem Bild gesehen. Außerdem wusste sie überhaupt nicht, ob die Sing-Akademie in Berlin tatsächlich im Inneren so aussah wie in ihrer Fantasie. Und die Walpurgisnacht? Das Stück war allgemein bekannt und sie konnte es praktisch überall schon einmal gehört haben. Vielleicht war die Musik in ihrem Traum auch gar nicht die echte Walpurgisnacht gewesen.
Während sie sich einen Kaffee kochte, kreisten ihre Gedanken weiterhin um Sam und ihren eigenartigen Traum. Sam hatte großartig ausgesehen in dem feinen Anzug und war ganz er selbst gewesen, mit verwuschelten Haaren und einem Lächeln, das ihr die Knie weich werden ließ. Sie schüttelte den Kopf und nippte genüsslich an ihrem Kaffee. Sie musste unbedingt
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