Augenblicklich ewig
Polly zu kennen und sie hatte sich gefreut, weil er sie ansprach. Ihre Enttäuschung musste groß gewesen sein, als sie feststellte, dass er sich nicht erinnerte. Schon an diesem ersten Abend hatte sie ihn mehr interessiert als jede andere Frau zuvor. Vielleicht, wenn ihre Wege sich anders gekreuzt hätten und nicht vollkommen verworren miteinander verstrickt wären, vielleicht hätte er sich dann in Polly verlieben können. Sie war zweifellos schön und wirkte auf ihn mehr als verführerisch. Aber wollte er mit ihr sein Leben teilen? Hatte er überhaupt eine Wahl? Er wusste es nicht. Vielleicht würden ihn noch schlimmere Träume als der ihres Todes immer wieder zu ihr zurücktreiben, bis er schließlich einwilligte, sie zu heiraten. Er weigerte sich, diese Vorstellung anzunehmen. Er glaubte an den freien Willen. Wollte daran festhalten. Der Gedanke, keine Wahl zu haben, erschien ihm plötzlich noch viel schlimmer als die Idee, sein Leben mit Polly zu verbringen.
Widerstrebend stand er vom Bett auf, zog sich die Kleidung, die er nun schon seit zwei Tagen trug, aus und wusch sich ausgiebig. Nachdem er sich ein sauberes Hemd und einen Anzug angezogen hatte, merkte er, wie hungrig er war. Den ganzen Tag hatte er kaum etwas gegessen. In der Küche fand er die Reste des Mittagessens, die zweifellos für ihn zurückgestellt worden waren. Wahrscheinlich hatte das Mädchen sich nicht getraut, ihn zum Essen zu rufen, nachdem er ihr eingeschärft hatte, ihn nicht zu stören. Er aß die Reste im Stehen direkt aus dem Topf. Sein Onkel und die Köchin hätten dieses Verhalten missbilligt. Aber die beiden waren nicht da und Sam kümmerte es nicht. Das Essen schmeckte aus dem Topf ebenso gut wie von einem der teuren Teller. Erst als er satt war, fühlte er sich besser. Seine Kopfschmerzen waren verflogen und sein Geist schien wieder in normalem Tempo zu funktionieren. Eigentlich hatte er noch einmal mit Polly reden wollen, mit ihr die Alternativen abwägen, aber inzwischen war es schon spät. Um diese Uhrzeit konnte er unmöglich vor ihrem Haus auftauchen oder gar durch die Flure streifen, wie es noch am Morgen sein Plan gewesen war. Also entschloss er sich, der Bar einen Besuch abzustatten und sich von Paul ablenken zu lassen.
Im Tanzlokal angekommen, blieb er einen Moment lang im Eingang stehen und schaute sich suchend um. Er konnte Paul nicht an seinem üblichen Platz entdecken, dafür wurde sein Blick jedoch unmittelbar von Polly angezogen. Selbstvergessen schwebte sie über die Tanzfläche, ihre Augen geschlossen, als wäre sie an einem vollkommen anderen Ort. Sam hatte noch nie einen schöneren Anblick genossen. Sein erster Impuls war, zu ihr zu eilen und sie in seine Arme zu schließen, aber er wusste nun, was schon die kleinste Berührung nach sich ziehen konnte. Es war undenkbar, sie zu umarmen, und darüber hinaus in der Öffentlichkeit völlig unangemessen. Er stand zweifellos noch immer unter dem Einfluss seines letzten Traumes. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, näherte er sich ihr, gebannt von der Anmut, mit der sie sich bewegte.
»Kennen wir uns nicht?«, fragte er, als er endlich vor ihr stand.
Sie riss die Augen auf und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Die Tränen des Vormittags schienen vergessen. »Aber natürlich, Sam. Aus diesem Leben und jedem anderen davor.«
»Ich will es noch einmal versuchen. Ich möchte dich berühren.« Bis er sie hatte tanzen sehen, hatte Sam keinen konkreten Plan gehabt, was er tun wollte und wie es weiter gehen sollte. Aber nun war er sich sicher, er wollte sehen, wohin die Sache führte. Er war noch nicht bereit, Polly aufzugeben.
Erstaunen zeichnete sich auf Pollys Zügen ab. »Tatsächlich?«, fragte sie. »Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dich so schnell wiederzusehen, aber wie heißt es? Die Hoffnung stirbt zuletzt, und deshalb habe ich Johanna begleitet.« Sie deutete auf Johanna, die mit Paul über die Tanzfläche fegte. Die beiden lachten und wirkten frisch verliebt. Auch wenn Sam den Wunsch seines Freundes immer noch nicht nachvollziehen konnte, freute er sich für Paul. Johanna schien nett zu sein. Ihre Blicke trafen sich und er hob kurz die Hand, um ihn zu begrüßen. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf Polly richtete, bemerkte er, wie diese Johanna gerade signalisierte, dass sie gehen würde.
»Wir gehen?«, fragte er deshalb.
Polly blickte ihn verwundert an, lächelte dann aber, sodass Sams Herz einen Takt aussetzte,
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