Augenblicklich ewig
sechs Stühlen. Mehr nicht.
Jakob schien ihre Gedanken zu erraten. »Nicht gerade ein Einrichtungstalent, unser Sam.« Er lachte wieder laut, als hätte er einen hervorragenden Witz gemacht.
Polly staunte. »Hatte er in Berlin auch keine Möbel?«
»Nein.« Jakob überlegte. »Er hatte noch einen Teppich. Das war’s. Mir ist es egal, solange das Sofa bequem ist.« Er deutete auf das Möbelstück und Polly nahm an, er hatte darauf geschlafen. »Ähm, Polly, ich wollte mich noch entschuldigen, wegen der Sache gestern Abend. Ich wollte keinen Ärger machen.«
Sie winkte ab. »Keine Sorge, Jakob. Es war nicht deine Schuld und es ist längst alles wieder in Ordnung. Ist es okay, wenn ich mich kurz umziehe?«
»Nur zu, ist doch nicht meine Wohnung. Mich musst du also nicht fragen. Kennst du den Weg?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sams Schlafzimmer ist hinter der Tür rechts und sein Badezimmer direkt dahinter.«
Ein wenig unwohl fühlte Polly sich schon dabei, Sams Schlafzimmer allein zu betreten. Sie hatte das Gefühl, in seine Privatsphäre einzudringen. Ob ihm das recht war? Als sie die Tür geöffnet hatte, verwarf sie den Gedanken jedoch schnell wieder. Das Schlafzimmer beherbergte lediglich ein großes Bett aus Holz, einen Stuhl mit zahlreichen Kleidungsstücken darüber und eine Kleiderstange. Einige gestapelte Bücher sowie eine kleine Lampe auf dem Boden bildeten die einzige Dekoration. Polly schlüpfte schnell aus ihrem Rock und streifte ihre Shorts über. Die Bluse behielt sie an, ließ sie jedoch locker über die kurze Hose hängen und öffnete die beiden oberen Knöpfe. Auf Schuhe verzichtete sie. Im Badezimmer wusch sie sich kurz Hände und Gesicht.
Auf dem Weg zur Tür fiel ihr Blick auf eines der Bücher. Es war ein Bildband von Santa Monica. Neugierig hockte sie sich neben den Bücherstapel und nahm das Buch in die Hand. Darunter befand sich ein weiterer Bildband, ebenfalls mit Aufnahmen der kalifornischen Küste. Ein eigenartiges Gefühl beschlich Polly, als sie auch diesen Bildband aufhob, um sich das Buch darunter anzusehen. Zwischen den Büchern entdeckte sie Fotos. Sie legte die Bücher beiseite und griff nach den Bildern. Es gehörte sich nicht, das wusste sie, aber ihre Neugierde siegte. Bisher wusste sie nur über Sam, was er ihr erzählt hatte.
Das erste Bild zeigte ein Haus am Strand. Es war hübsch und alt, wahrscheinlich aus den Fünfzigerjahren. Das zweite Foto verschlug Polly den Atem. Das war sie selbst. Ihr wurde schwindelig und ihr Magen krampfte sich zusammen. Schnell blätterte sie durch die anderen Fotos. Einige zeigten Menschen, die ihr unbekannt waren, aber von den meisten blickten ihr ihre eigenen Augen entgegen. Sie plumpste unsanft aus der Hocke auf ihren Po, weil sie sich nicht mehr auf den Füßen halten konnte. Übelkeit kroch ihre Kehle empor. Die Frau auf den Bildern sah genauso aus wie sie selbst. Nein, vielmehr sah sie aus wie die Frau aus ihren Träumen. Eine Version ihrer selbst in fremd anmutender Kleidung. Sam hatte Fotos von ihr. Der anderen Polly. Die Bilder waren alt, wie unschwer an der schlechten Auflösung und den verblassenden Farben zu erkennen war. Einige der Fotos waren schwarz-weiß. Vielleicht hatte Sam selbst damals diese Bilder gemacht und sie in diesem Leben irgendwie wiedergefunden. Polly schwirrte der Kopf. Es war eines, Sams Geschichten zu hören oder von früheren Leben zu träumen, aber es war etwas ganz anderes, ihr eigenes Gesicht auf einem Foto zu sehen, das lange vor ihrer Geburt aufgenommen wurde. Polly hatte das Gefühl zu ersticken. Bildbände von Santa Monica, das Haus, diese Frau – sie selbst. Sie glaubte Sam, seit er ihr von ihrer Bestimmung erzählt hatte. Dennoch waren seine Erzählungen immer eher ein schönes Märchen als Realität für sie gewesen, weil sie sich außer in ihren Träumen nicht daran erinnerte. Nun hatte sie den Beweis vor ihrer Nase. Wenn ihr Verstand bisher zumindest noch an einem Zipfel ihrer alten Weltsicht festgehalten hatte, musste sie diese nun endgültig aufgeben. Sie war wiedergeboren worden. Nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals. Das Schicksal warf sie immer wieder ins Leben zurück, damit Sam und sie sich fanden und ineinander verliebten. Sie hatten überhaupt keine Wahl. Sie sahen gleich aus, ergriffen ähnliche Berufe, lebten zusammen, bis sie starben und von Neuem begannen. Ein vorherbestimmtes Leben ohne Ausweg.
Polly japste. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, aber es kam keine Luft in ihre
Weitere Kostenlose Bücher