Augenzeugen
beneidenswert – er winkte zurück und ging. War er eigentlich auch im Kindergarten gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Auch von seinen ersten Schuljahren hatte er nur verschwommene Bilder im Kopf.
Er fuhr gar nicht erst zum Präsidium, sondern gleich zum Pressearchiv. Dort kannte man ihn, wusste, dass er nicht gern am Bildschirm arbeitete, und gab ihm gleich den Schlüssel für den Keller, wo die gebundenen Jahrgänge der Niederrhein Post verstaubten.
Er war gerade dabei, die ersten schwarzen Bände vom Juni 1997 zu einem Tisch zu schleppen, als sein Handy vibrierte. Fluchend holte er es aus der Tasche und drückte auf den Knopf.
Es war Astrid: «Tobias Joosten ist tot!»
«Wie bitte?» Er setzte sich hin. «Geldeks Finanzberater?»
«Ja! Man hat ihn eben gefunden auf einem Bauernhof in Reichswalde. Die Kollegen sagen, er ist übel zugerichtet worden.»
«Zugerichtet?»
«Ja, Herrgott nochmal! Was ist denn los mit dir? Wo steckst du überhaupt? Wir sind schon unterwegs, du kommst also am besten direkt hin. Der Hof liegt gleich am Wald. Eberhard heißen die Leute, und die Adresse ist An der Hand . Weißt du, wie du dahin kommst?»
«Ich werd’s schon finden.»
Der Hof – ein Langhaus mit Wohnräumen vorn, Kuhstall und Tenne im hinteren Teil, quer dazu eine Scheune – lag einsam, weit außerhalb vom Dorf. An drei Seiten wurde er eingerahmt von Feldern mit jungen Zuckerrüben, Mais und Ackerbohnen, an der vierten Seite vom Reichswald, der hier besonders finster war, weil kaum Laubbäume das dunkle Geflecht der Tannen und Fichten auflockerten.
Toppes Wagen holperte über den unbefestigten Feldweg, der schlammig und nach dem vielen Regen in den letzten Tagen voller Pfützen war. Das ganze Anwesen wirkte ein wenig verwahrlost. Neben der Scheune watschelten ein paar schmutzige Gänse im Matsch und suchten vergeblich nach Futter. Hinter dem Haus grasten auf einer Obstwiese ein paar Mutterschafe und Lämmer unter den wachsamen Blicken eines kapitalen Bocks. Toppe fuhr im Schritttempo vorbei. In ihrer Wohngemeinschaft hatten sie auch Schafe gehabt, aber ihr Bock war längst nicht so ein Prachtexemplar gewesen wie dieser hier, dafür umso hinterhältiger.
Er verzog den Mund. Wahrscheinlich lebten seine Tiere schon nicht mehr. Das Paar aus Oberhausen, das den Hof mitsamt der Schafe, Hühner und Katzen gekauft hatte, war zwar ganz wild aufs Landleben gewesen, hatte jedoch von Tuten und Blasen keine Ahnung und schien auch nicht besonders langmütig zu sein.
Er hielt neben dem Polizeiwagen und wechselte ein paar Worte mit den Kollegen.
«Sie kannten das Opfer, hab ich gehört?»
«Na ja», meinte Toppe, «ich hab nur einmal mit ihm gesprochen.» Er sah das Kindergewusel in Grieth wieder vor sich und merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.
Der Tote lag kopfunter an einer Böschung, die die Weide zum Wald hin begrenzte. Neben ihm hockte van Gemmern und machte Aufnahmen. Ein paar Meter entfernt standen van Appeldorn und Astrid und sprachen mit einem vierschrötigen Mann, der seine Hände nicht ruhig halten konnte. Er fuhr sich damit über den Kopf, steckte sie in die Hosentaschen, rieb sich die Arme. Vermutlich war er es gewesen, der Joosten gefunden hatte. Toppe stieß das Gatter auf und ging zur Leiche hinüber. Joosten lag auf dem Rücken. Sein Haar war blutdurchtränkt, über der linken Augenbraue klaffte eine große Wunde, mitten auf der Stirn war eine bläulich verfärbte Beule, an der linken Halsseite eine eingeblutete Stelle. Er hatte Abschürfungen im Gesicht und an den Händen. Sein dunkelgrauer Anzug war lehmverschmiert.
Toppe trat einen Schritt zurück. Der laubbedeckte Boden hier war weich und feucht und teilweise von jungen Brombeerranken überwachsen.
«Haben Sie schon was?»
Van Gemmern nahm die Kamera runter. «Nichts.»
Astrid war herübergekommen. «Der Bauer hat ihn gefunden, Knut Eberhard, als er heute früh die Schafe tränken wollte. Viel gesagt hat er bis jetzt noch nicht. Er scheint mir ziemlich von der Rolle zu sein. Willst du mit ihm sprechen?»
«Nein, macht ihr das. Ich muss nochmal weg.»
«Wohin denn?»
«Erklär ich euch später.» Toppe hatte sich schon zum Gehen gewandt.
Van Gemmern, der sich gerade zu seinem Koffer hinunterbeugte, hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ihm nach.
«Na, fein», murmelte Astrid und ging zurück zu van Appeldorn und dem Bauern. «Können wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen, Herr Eberhard? Es schreibt sich dann
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