Aurora Komplott (Thriller) (German Edition)
treten. Das ist doch
für jedermann offensichtlich, dass die Polizei überfordert ist. Oder steht die
Festnahme des Täters unmittelbar bevor und Sie umschreiben deshalb alles nur
vage, um die Festnahme nicht zu gefährden. Ist das ihre Strategie?“
„Wir haben von allen Tatorten ein großes
Spurenaufkommen. Allein die Katalogisierung aller Spuren nimmt viel Zeit in
Anspruch, dann folgt die operative Bewertung und zum Schluss die
wissenschaftliche Auswertung. Alles...“
„Entschuldigung, uns interessiert der
Spurenkrempel überhaupt nicht. Haben Sie einen Verdächtigen im Visier, ja oder
nein“, wurde Hanson in seinen Ausführungen jäh unterbrochen.
„Nein, haben wir nicht“ antwortete er und
dachte, wir haben noch nicht einmal ein Gesicht, keine Phantomzeichnung, keine
Beschreibung, nichts. Hanson aber brauchte ein Gesicht und überlegte, ob er die
Hopfenstraße beobachten lassen und jedes Gesicht mit einem Teleobjektiv
fotografieren lassen sollte. Es war ja Lehrbuchwissen, dass viele Täter,
besonders die Sexualtäter zum Tatort zurückkehren, um wieder die Luft zu atmen,
um sich zu erinnern, um sich wieder aufzugeilen. Jeder Polizist weiß das,
jeder.
Plötzlich drehten sich alle Köpfe zur Tür.
Hanson bemerkte es nicht sofort, sah dann aber Pelka hindurchschlüpfen, sah,
wie er sich suchend umschaute und dann auf ihn zuschlich. In der Hand hielt er
ein Briefkuvert, das er Hanson übergab und sich flüsternd zu ihm runterbeugte.
„Chef, wir hatten Glück, hier ist eine Videografie von einer männlichen Person,
die zur tatkritischen Zeit das Haus betreten haben dürfte. Er ist bei den
Hausbewohnern nicht bekannt“.
Jetzt Ruhe bewahren. Die Pressemeute darf nichts
merken. Gelangweilt öffnete Hanson den Briefumschlag und blickte in ein cirka
sechzigjähriges Gesicht. Jetzt hatte Hanson ein Gesicht und versuchte darin zu
lesen. Er sah in ein listiges Augenpaar, das sich suchend umschaute, als sondiere
die Person die Umgebung. Nach der Physiognomielehre ließ die Visage eine
gewisse Intelligenz, vielleicht auch eine hinterhältige Skrupellosigkeit,
gepaart mit großem Durchsetzungsvermögen erahnen, wofür die energische
Kinnpartie sprach. Eine hochgefährliche Mischung, dachte Hanson. Auf eine Moral
zu hoffen, die in umgekehrter Proportion zu seinem Aussehen stand, fürchtete
Hanson, war müßig.
Der Mörder hatte nun ein Gesicht bekommen.
Hanson spürte einen eiskalten Schauder über seinen Rücken laufen, als würde
sein Unterbewusstsein die tragischen Ereignisse bereits erahnen. Plötzlich
wusste er, er würde sich in Acht nehmen müssen. Im Hintergrund zeigte die
Aufnahme die dem Sonnenstudio gegenüberliegende Häuserfront.
Zugegeben, auf eine solche Duplizität hatte
Hanson zwar gehofft, aber ernsthaft nie daran zu glauben gewagt, dass sich so
schnell das Déjà-vu-Erlebnis wiederholen würde. Jetzt aber hielt er wie damals
ein Foto in der Hand. Wie in jenen Tagen, vor vielen Jahren als sich Hellen für
einen Kripoball beim Bundeskriminalamt das Dekolleté hatte bräunen lassen
wollen und in der Kabine eines Sonnenstudios in Wiesbaden von einem
Exhibitionisten sexuell belästigt wurde. Dieser Strolch wurde beim Betreten und
Verlassen des Studios videografiert. Die Bilder führten zur Identifizierung und
Festnahme des Täters. Ohne diesen unangenehmen Vorgang wäre Hanson wohl kaum
auf die Idee gekommen, dass auch das Studio in der Hopfenstraße videoüberwacht
werden könnte.
In Hansons Kopf formten sich bereits
Fahndungsmöglichkeiten, Alternativen, die gegeneinander abzuwägen waren:
öffentliche Fahndung über Presse, Funk und Fernsehen, ja oder nein? Um
Gotteswillen, nein, zum jetzigen Zeitpunkt eine Fahndung anzuschieben könnte
voll in die Hose gehen.
„Herr Hanson, gibt es etwas, was Sie uns
mitteilen möchten?“ drang es schwach in Hansons Unterbewusstsein ein.
Nein, spann Hanson seinen Gedanken weiter, eine
Veröffentlichung des Bildes wäre zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv. Viel zu
schnell könnte sich der Typ auf und davon machen, bevor er auch nur einwandfrei
identifiziert war. Nein, diese fragile Spur musste vorerst gehegt und sorgsam
behandelt werden.
Bleierne Stille war es, die Hanson aus seinen
Gedanken riss. Wie ein Echo wiederholte sich die Frage von Gerbers Schwester in
seinem Kopf.
„Äh, - nein nein, mein Mitarbeiter hat mir
soeben eine private Mitteilung übergeben, die absolut nichts mit diesem Fall zu
tun hat“, log Hanson mit ausdruckslosem Gesicht
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