Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
Schuss. Der durchschlug Clepsy-
    dras Stirn dicht unter dem Ansatz ihres Mähnenkamms
    und hinterließ im Hinterkopf eine Austrittswunde, die groß genug war, um drei Finger hindurchzustecken. Gehirnmasse und Knochen spritzten an die Rückwand der Vernehmungszelle. Er paddelte näher, um die Reste zu untersuchen. Neben dem erwarteten Korditgeruch stieg ihm
    ein bestialischer Gestank nach verbrannten elektronischen Bauteilen in die Nase. Die graurosa Masse hatte die Struktur von Hafergrütze, vermischt mit Tonscherben und Stoff-Fetzen. Und er entdeckte noch etwas: winzige Glitzer-
    pünktchen, grausilbrig und bronzefarben, einige mit feinen Golddrähten verbunden, andere mit kleinen Lichtern, die immer noch blinkten. Fasziniert sah er sie langsam erlö-
    schen wie die Neonlichter einer Stadt bei Stromausfall. Ein Teil von ihr hatte, obwohl über die Wand verteilt, das Denken noch nicht aufgegeben.
    Jetzt war Clepsydra tot, daran bestand kein Zweifel. Synthetiker waren Übermenschen, aber sie waren nicht unverwundbar. Sie schwebte mit schlaffen Gliedern mitten in der Zelle, die Augen noch geöffnet, nach oben gerichtet und leicht verdreht, als hätte sie - welch alberne Vorstellung - den Weg der Kugel verfolgt, bevor sie in ihre Stirn eindrang. Ihr Gesichtsausdruck war seltsam heiter, sogar die Andeutung eines koketten Lächelns war zu erkennen. Gaffney störte das nicht. Er hatte genügend Erfahrung mit Leichen, um zu wissen, wie sehr ihre Miene trügen konnte. Hielte man einen Schrei im Ansatz fest, das Bild wäre leicht mit Gelächter, Entzücken oder freudiger Erwartung zu verwechseln.
    Viel blieb nicht mehr zu tun. Er verstaute die Pistole wieder in seiner Tasche und sagte laut, sehr deutlich und langsam: »Gallium, Papier, Basalt. Gallium, Papier, Basalt. Erscheine. Erscheine. Erscheine.«
    Es dauerte gerade so lange, dass er unruhig wurde. Aber seine Sorge war unbegründet. Die Tarnhülle erschien flackernd zu seiner Rechten, eine verchromte Kugel, die das Muster der Wandfliesen konvex verzerrt widerspiegelte.
    Gaffney paddelte hinüber, öffnete sie entlang der mittleren Trennlinie und holte das kriminaltechnische Reinigungsset heraus, das er vorsorglich hineingelegt hatte. Danach war er einige Minuten lang damit beschäftigt, die gröbsten Spuren von Clepsydras Ermordung von den Wänden zu ent-
    fernen. Hätten die Wände aus Aktivmaterie bestanden, so hätten sie die Überreste selbsttätig absorbiert, aber die Verkleidung der Vernehmungszelle verhielt sich unerschütterlich träge. Zum Glück brauchte er sie nicht allzu gründlich zu reinigen, und dass außerhalb des Spritzkreises - und erst recht in der Luft - noch mikroskopische Blut- und Ge-webespuren zu finden sein würden, kümmerte ihn nicht.
    Nachdem er mit dem Reinigungsset auch alle Abdrücke
    von der Waffe und von seinem Trainingshandschuh ent-
    fernt hatte, legte er es mitsamt der Pistole in die Tarnhülle zurück. Dann wandte er sich Clepsydra zu. Bei Schwerelosigkeit war es nicht einfach, ihre schlaffe Gestalt in die enge Kugel zu stopfen, aber Gaffney schaffte es, ohne auf die Schneidefunktionen seiner Hundepeitsche zurückgreifen
    zu müssen. Anschließend verschloss er die Tarnhülle und befahl ihr, sich wieder unsichtbar zu machen. Nachdem sie sich in den Tarnmodus zurückversetzt hatte, glaubte er zu-nächst noch, ihre Umrisse zu erkennen, einen Kreis so dünn wie ein Bleistiftstrich, der vor ihm im Nichts schwebte.
    Doch als er den Blick abwandte und etwas später wieder auf die Stelle richtete, wo die Tarnhülle gewesen war, sah er nichts mehr.
    Kr streifte sich die Spezialbrille über und schaltete auf Sonarmodus. Die Tarnhülle gab sich alle Mühe, die Schall-stöße zu absorbieren, die er aussendete, aber sie war auf Unsichtbarkeit im Vakuum optimiert, nicht in einer Atmosphäre. Die Brille machte sie mühelos sichtbar. Er streckte die Hand aus und berührte die glatte, kalte Oberfläche.
    Unter dem Druck seiner Finger driftete die Kugel seitlich weg. Er schob sie auf die Zugangswand zu. Sie ließ sich nur schwer durch die Doppelmembran drücken, aber was einmal möglich gewesen war, musste auch ein zweites Mal zu schaffen sein. Gaffneys einzige Sorge war, dass ihm jemand entgegenkäme: zum Beispiel Dreyfus. Der Gang bot reichlich Platz für zwei Personen, aber die Tarnhülle wäre zu breit gewesen, um sich daran vorbeizuzwängen.
    Das Glück - oder das kalkulierte Zugangsfenster, wie
    Gaffney es gern ausdrückte - blieb ihm treu. Er

Weitere Kostenlose Bücher