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Aus dem Überall

Aus dem Überall

Titel: Aus dem Überall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Jr. Tiptree
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muß um jeden Preis zum Reich zurückkehren, bevor ihre Informationen veraltet sind.
     
    So sprach in jeder Nacht die wirkliche, lautlose Stimme der Schweinefrau – manchmal, wenn es ihr schlecht ging, in jeder Stunde – in den dunklen Räumen unter ihrem leuchtend roten Haar.
    Oder war es etwa ihre eigene Stimme?
    Meistens ja. Mit ihrer Hilfe verdrehte sie die fast unerträglichen Erniedrigungen und Schmerzen in ›komische Geschichten‹.
    Aber es gab noch eine andere wahre Stimme. Die wichtigere Stimme.
    Sie sprach nicht immer mit Worten. Zuerst und auch später ›sprach‹ sie meist wie ein Gefühl, ähnlich dem Eindruck, wenn jemand aufmerksam zuhört und leise und wortreich gerade außer Hörweite antwortet.
    Aber die Stimme vermischte sich in den Anfangsjahren immer mehr mit ihrer eigenen, während sie sich das Leben und die Ereignisse im Reich der Schweine zusammenkomponierte. Manchmal durchbrach die Stimme ein geistiges Schweigen, aber was sie sagte, war nicht immer völlig klar. Ab und zu war sie völlig verständlich; zum Beispiel hatte sie ihr während der unzähligen akademischen Prüfungen viermal die richtige Antwort verraten.
    Da CP die Antworten natürlich selbst wußte, sie waren nur in ihrer Müdigkeit untergegangen, gewann sie unterbewußt neue Sicherheit. Es war ein Beweis dafür, daß die Stimme kein Wahnsinn war, sondern nur das, was ein Buch eine ›Projektion‹ ihrer eigenen Erinnerungen genannt hatte, die von draußen zu kommen schien.
    Solche Projektionen, lernte sie, waren nicht ungewöhnlich, besonders nicht unter Streß. Und in Träumen.
    Und was die Tatsache anging, daß die Stimme ihr neue Ideen und komplizierte Details über das Reich eingab, so las sie, daß schöpferische Menschen – Künstler und Autoren – häufig ihre Inspirationen auf eine äußere Quelle wie ihre ›Muse‹ projizieren.
    CP war überhaupt nicht kreativ, ein persönlicher Mangel, der bei ihr als Nicht-Managerin für wertvoll und sogar wichtig gehalten wurde. Ihre geheime Geschichte vom Reich und die Stimme waren anscheinend eine Art rudimentäre Kreativität, die zum Glück im Geheimen zum Ausdruck kam.
    Sie versuchte, sich an die richtigen Antworten für alle Kreativitätstests zu erinnern und verschloß ihr Geheimnis in sich.
    Die Stimme gab ihr nur selten völlig neue Informationen. Einige wenige Male schien es, sie wollte sie in das Reich ziehen, um ihr etwas zu zeigen – sie wußte nicht, was, nur daß dazu ein sichtbarer Eindruck von Blau oder Lavendel gehörte, und einmal, sehr klar, eine graue Hand. Sie machte etwas mit einem Gewebe … aber es war bedeutungslos.
    Nicht bedeutungslos dagegen war eine unbeschreibliche, persönliche ›Mitteilung‹. Die Stimme kannte sie. Und ab und zu wiederholte sie: »Komm!«
    Zweimal sagte sie sehr deutlich: »Ich warte.«
    Sie war sicher, daß es dabei um den Raum ging. Nun, ihr einziger Wunsch war, in den Raum zu gehen. Wieder eine Projektion, nichts, was sie beunruhigen mußte.
    »Ich will. Ich will. Ich will. Ich will … Die Schweinefrau wird zu den Sternen fahren«, erklärte sie der Stimme. »Die Schweinefrau wird zwischen den Sternen enden. Sehr bald. Sehr bald.«
     
    Nun, als sie sich für ihre letzten Tage auf der Calgary einrichtete, komponierte sie – oder die Stimme – wie üblich einen knappen Bericht von allen Ereignissen. Aber er war in völlig neue Begriffe gefaßt. Die harten Untertöne ihrer unaussprechlichen Trauer waren verschwunden, die knappen Beschreibungen des Unerträglichen. Sie sprach immer noch als ›die Schweinefrau‹ – aber diese Frau hatte endlich ihre Freiheit und ihr Glück gefunden, ihren Weg zu den Sternen. Einen Weg, der sie zum Reich zurückgeführt hätte, wenn ihr Menschenleben lange genug gedauert hätte. Ihr Leben war nicht lang genug. Aber sie wollte wenigstens in Freiheit und auf dem Weg nach Hause sterben.
    Als sie dies dachte, fiel ihr ein, daß ihr zufällig gewählter Kurs vielleicht nicht ganz richtig war. Vielleicht wurde es ihr sogar mitgeteilt. Während ihr schon halb bewußt war, daß sie nun völlig dem Wahnsinn nachgab, suchte sie sorgfältig den Sektor vor dem Bug ab. Er war natürlich leer, abgesehen von den wenigen, weit entfernten Sternen. Und ja – die Stimme hatte recht – sie war nicht auf dem richtigen Kurs. Sie mußte eine Winzigkeit korrigieren. Das war wichtig.
    Auf Kurs wohin?
    Zum erstenmal stand sie vor ihrem nackten Wahnsinn. Welcher richtige Kurs, unterwegs wohin? Ins Nichts –

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