Aus der Hölle zurück
ging ich nach der Arbeit aber zur ambulanten Abteilung des Lagers. Dort kannten mich einige Pfleger. Sie schimpften mit mir, weil ich mich so spät gemeldet hatte. Ich wurde sofort in den Krankenbau, in die chirurgische Abteilung des Block 21 , eingewiesen. Im Finger hatte sich eine Entzündung entwickelt.
Am nächsten Tag wurde ich operiert. Dr. Türschmidt kratzte ganz einfach den Eiterherd aus. Für den Chirurgen war das eine Kleinigkeit, für mich ein schlimmes Erlebnis. Als ich nach dem Herausschneiden des entzündeten Gewebes den weißen Fingerknochen erblickte, wurde ich ohnmächtig. Dem Arzt bereitete ich unnötige Umstände. Türschmidt brachte mich am Ende wieder zur Besinnung und meinte, während er den Finger schiente: »Bis zur Hochzeit ist das wieder gut, mein Sohn. Geh auf die Schonung. Zum Verbinden kommst du hierher.« Ich bedankte mich, und – noch wie berauscht durch die örtliche Betäubung und die scharfen Skalpelle – brachte mich ein Pfleger in den Schonungssaal des Blocks 20 , denselben, den ich einige Wochen zuvor verlassen hatte.
Alte Bekannte, Glowa und Rospenk, begrüßten mich. Obwohl mir der Finger und die ganze linke Hand sehr weh taten, freute ich mich, daß ich wieder bei ihnen war. Es bestand die Aussicht auf etwas bessere Verpflegung, und das war am wichtigsten. Am dritten Tag mußte ich zum Verbandswechsel. Der Finger sah verheerend aus, aber in den nächsten Tagen wurde es besser. Nach einer Woche begann ich wieder, dem Saalpfleger zu helfen. Arbeit gab es genug. In der Schonungsabteilung tauchten Flöhe auf, aber gleich in solchen Mengen, daß wir nicht damit fertig wurden. Es wurde beschlossen, eine Desinfektion vorzunehmen. Alle Kranken mußten umgebettet werden. Bei der Gelegenheit wurden die verfaulten Strohsäcke weggeworfen und durch neue ersetzt. Die Decken mußten zusammengelegt werden, damit die Pfleger sie auf Tragen zur Dampfbehandlung in die Effektenkammer bringen konnten. Ich bekam den Auftrag, die Pritschen und die restlichen Strohsäcke mit chemischen Insektenbekämpfungsmitteln zu bespritzen. Obwohl die Desinfektion mehrere Stunden dauerte, konnten die Flöhe doch nicht gänzlich vertilgt werden.
Völlig unerwartet teilte Rospenk mir eines Abends mit, daß im Typhussaal Lewandowskis im Erdgeschoß unseres Blocks mein Vater liege. Kaum hatte ich mich vergewissert, daß keine SS -Leute im Block waren, lief ich nach unten. Ich meldete mich beim Saalältesten, der mir die Pritsche zeigte, auf der ich meinen Vater erblickte. Er war besinnungslos und erkannte mich nicht. Er warf sich im Fieber hin und her und murmelte etwas. Die Laken ringsum waren mit Flöhen übersät. Ich wollte meinem Vater Wasser geben, aber er stieß es mir aus der Hand. Ich bat den Saalältesten, sich um meinen Vater zu kümmern, und versprach ihm, beim Aufräumen und bei der Nachtwache zu helfen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Erst muß das Fieber nachlassen. Vorläufig macht ihm das schwer zu schaffen.« Voller Unruhe kehrte ich in die Schonung zurück.
Zwei Tage später ordnete der SS -Arzt die nächste Selektion in der Infektionsabteilung an. Ich wußte nicht, was unten vor sich ging. Als sie in den Schonungssaal kamen, sahen sie wie gewöhnlich die Karteikarten der Kranken durch und suchten ungefähr 30 Mann für einen »Transport« nach Birkenau aus. Jeder wußte, daß die Ausgesonderten dort getötet und verbrannt wurden. Einige Verurteilte bewunderte ich wegen ihrer Haltung und ihrer Ausgeglichenheit. Manche weinten, das stimmt. Andere aber sagten, daß ihr Tod sowieso gerächt werde. Sie waren überzeugt davon. Einige beteten laut, und irgend jemand stimmte leise das Kirchenlied »Wer unterm Schutz des Höchsten steht …« an. Vom Fenster aus beobachtete ich ihr Verhalten und schluckte mühsam. Rührung, Hilflosigkeit gegenüber dem Schicksal – meine Gedanken gerieten durcheinander. Auf der Ladefläche des LKW konnte ich meinen Vater nicht entdecken. Was war mit ihm geschehen? Ich war entsetzt. Sollte er eine Phenolspritze bekommen haben?
Als die SS -Leute den Block verließen, schlich ich mich vorsichtig in Lewandowskis Saal. Mein Vater lag weiterhin auf der Pritsche, diesmal aber oben. Der Saalälteste sagte mir, daß sie ihn nur mit Mühe dort hinaufgewuchtet hätten, damit die SS -Leute nicht mitbekamen, in welchem Zustand er sich befand. Seine Karteikarte hatten sie versteckt. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich drückte dem Saalältesten fest die Hand. Mit
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